Rosenrot, rosentot
endlich ihre volle Aufmerksamkeit schenkte. Ich betrachtete das doppelseitige Foto in Mystische Stätten , auf dem sich »moderne Druiden« zur Sommersonnenwende in Stonehengeversammelten. Einige von ihnen trugen weiße Gewänder und hatten Schals um ihre Köpfe gebunden, die meisten hatten jedoch Sweatshirts und Jacken an, ganz normal. Ein paar saßen oben auf den hohen Steinen. Ich hatte mich oft gefragt, wie man ein moderner Druide wurde und ob mich die Tatsache, dass ich in Amerika geboren war und eine unitarische Mutter hatte, automatisch als Kandidatin ausschloss.
»Ich habe überlegt«, begann Rose, »dass das zwei verschiedene Reisen sein müssten, weil das Bermudadreieck in der ganz anderen Richtung liegt.«
»Ja, das weiß ich! Ich wollte dich ja bloß fragen, ob du auch dahin willst oder nur nach Europa und Ägypten.«
»Klar«, meinte Rose achselzuckend und blickte wieder in ihr Buch. »Wir können uns Bikinis kaufen und ...«
»Bikinis finde ich doof«, warf ich prompt ein.
»... dann ein paar Tage am Strand bleiben, bevor wir raus zum Dreieck segeln«, fuhr Rose unbeirrt fort. »Wir sonnen uns ein bisschen, machen kurz Urlaub. Ausruhen darf auch mal sein.«
»Meine Mom erlaubt mir sowieso nicht, einen Bikini anzuziehen«, erklärte ich. »Ich darf nur Badeanzüge tragen.«
»Bis dahin bist du viel älter«, gab Rose zu bedenken. »Da kann sie dir nicht mehr vorschreiben, was du tun sollst.«
Ich schnaubte ungläubig angesichts dieser komischen Vorstellung von einer mysteriösen Zeit – ich mit achtzehn –, in der ich einen Bikini tragen und meine Mutter es mir nicht verbieten könnte. Nein, im Vergleich dazu schien mir sogar Atlantis realer und greifbarer zu sein.
Rose las weiter.
»Dann machen wir lieber eine Extrakarte für diese Reise«, schlug Charlotte vor.
»Ist vielleicht besser«, murmelte Rose. »Aber vorher musst du wohl noch mehr Karten kopieren.«
»Wie wäre es mit einer einzigen großen Reise um die ganze Welt?«, fragte ich. »Bei der könnten wir auch auf die Osterinsel fahren. Ich wollte sowieso auf die Osterinsel. Ich finde diese großen Steinfiguren toll, die in dem anderen Buch ...«
»Oh Mann, Nora!«, stöhnte Charlotte. »Was hast du denn nur dauernd mit deinen Megalithen?«
Das hatte Charlotte bestimmt bloß gesagt, um ein seltsames Wort benutzen zu können, deshalb ignorierte ich die Frage einfach.
»Wow!«, staunte Rose, die jetzt mit offenem Mund in das Buch glotzte. »Lassen deine Eltern dich echt solchen Kram lesen?«
»Was?« Charlotte griff nach der Ecke des Buches und zog sie nach unten, damit wir alle die Bilder sehen konnten. »Von dem Alien-Buch habe ich erst ganz wenig gelesen.«
Auf der Seite war eine Zeichnung von einem sehr merkwürdig aussehenden Kind, dessen riesiger Schädel unter dem durchsichtigen Haar hindurchschimmerte. Die Augen schienen mit Eyeliner nachgezogen zu sein.
»Das Baby ist halb Mensch, halb Alien«, erklärte Rose.
»Wie ist denn das passiert?«, fragte ich.
»Ach, denk doch mal nach, Nora!« Charlotte sah zu Rose und verdrehte die Augen. »Was glaubst du wohl, wie das passiert ist? Das ist eklig!«
Rose reagierte nicht, und ich betrachtete die Zeichnung etwas genauer: Außer dem Kopf war nichts zu erkennen, denn das Baby hatte ein langes, unförmiges Kleid mit einem tief sitzenden Gürtel an.
»Es sieht ein bisschen aus wie Kelly Sawyer«, stellte ich fest.
Charlotte kicherte. Kelly Sawyer hatte sowohl große und unheimliche blaue Augen als auch einen komischen Topfhaarschnitt, mit dem sie den Schauspielern aus Pauls Siebzigerjahre-Filmen ähnelte.
»Aber angezogen ist es wie Sally Pilkington«, fügte ich hinzu.
Charlotte runzelte die Stirn. »Ich finde es nicht gut, dass du dich über Sally lustig machst.«
Verlegen biss ich mir auf die Lippe. Eigentlich konnte man sich sehr gut über Sally lustig machen, denn alle fanden, dass sie sich komisch anzog – ganz zu schweigen davon, dass sie eine Zeugin Jehovas war. Aber ihr großer Bruder hatte vor Kurzem einen Autounfall gehabt und lag noch im Krankenhaus. Anscheinend durften wir sie nicht verspotten, solange ihr Bruder nicht wieder gesund war.
»Das Buch lese ich als Nächstes, glaube ich«, verkündete Charlotte, die ihre Hand nach wie vor auf der einen Ecke des Buches liegen hatte.
Einen Moment lang betrachtete Rose stumm Charlottes Hand, bevor sie schließlich doch antwortete.
»Tja, dann nimm Roswell, New Mexico, mit auf eine der Karten«, sagte sie langsam.
Weitere Kostenlose Bücher