Rosenrot, rosentot
unspektakulär jener Tag, jener gemeinsame Gang zu mir nach Hause gewesen war.
Ich streckte mich und schlurfte ins Wohnzimmer.
Auf den Sofakissen, dem Couchtisch und dem Fußboden lagen mehrere Time-Life-Bücher verteilt. Ich sortierte sie und legte alle, in denen Papiere steckten, zusammen, weil ich mir Charlottes alte Notizen aus unserer Kinderzeit ansehen wollte. Die dürften wohl ungleich unterhaltsamer sein als »Good Morning America« .
Nachdem der Kaffee fertig war, hockte ich mich mit einem Becher und ein paar Büchern auf die Stufen der Hemsworthschen Veranda. In dem ersten Band, Geist über Materie , fandich gleich mehrere kleine Notizzettel, die auf ein Stück violette Bastelpappe geheftet waren.
Auf dem obersten Blatt stand:
Nach minutenlangem Hin und Her ist die Befragte endlich bereit, zu reden. Sie beschreibt, was die vermisste Person am Tag ihres Verschwindens getragen hat. Lila Sweatshirt. Jeans.
Typisch Charlotte, mich »die Befragte« zu nennen. Ich klappte das Buch zu und wandte mich Seelenreisen zu. Dort stand:
Bin nicht sicher, ob die Befragte zu außerkörperlichen Erfahrungen imstande ist. Muss sie zum Übernachten einladen und diese Möglichkeit prüfen.
Ich lachte spöttisch, faltete das ausgeblichene rosafarbene Papier zusammen und legte es neben mich auf die Stufe – darauf musste ich Charlotte später unbedingt ansprechen. Dann blätterte ich den Rest des Buches durch, doch dort fand ich keine weiteren Notizen. Anscheinend hatte sich die junge Charlotte nicht für Nahtoderfahrungen oder Reinkarnation interessiert – was wohl auch besser so war.
Also trank ich meinen Kaffee und nahm mir Traum und Traumdeutung vor, in dem so viele Zettel steckten, dass die Bindung zum Teil bereits nachgegeben hatte. Als ich es aufschlug, fiel mir direkt einer von mehreren zusammengehefteten Notizzetteln in den Schoß.
Ich erkannte meine eigene Elfjährigen-Handschrift auf dem obersten; sie war seltsam nach links geneigt. »Nora Nora NORA « war auf das erste Blatt gekritzelt – in kursiven, dann aufgeblähten und schließlich sehr komischen Lettern, dieoffenbar Blättern ähneln sollten, denn aus dem O lugte eine recht bizarr anmutende Eule hervor.
Darunter stand:
Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ein riesiger McDonald’s-Hamburger in mein Zimmer geschwebt kam. Ich habe versucht, hineinzubeißen, aber da ließ der Hamburger die Sonne aufgehen, und ich wurde wach, bevor ich etwas schmecken konnte.
Es folgten in paar leere Zeilen und dann, mit Bleistift geschrieben:
Ich habe geträumt, dass wir von einer Hexe mit einem Bulldozer gejagt wurden. Wir alle rannten und versteckten uns unter Charlottes Trampolin. Die Hexe stieg aus dem Bulldozer und jagte uns nach, sah uns aber nicht. Sie fing an, auf dem Trampolin herumzuspringen, sodass sie uns bei jeder Landung nach unten drückte. Wir hörten sie oben gackern, als sie hüpfte, und hatten Angst. Aber sie fing uns nicht.
An diesen Traum erinnerte ich mich. Ich hatte ihn sogar öfter geträumt, allerdings bereits, als ich ungefähr sieben oder acht Jahre alt war. Vermutlich hatte ich ihn hier aufgeschrieben, weil ich die neueren Träume lieber für mich behielt. Auf den nächsten Zetteln folgten noch weitere Träume von mir. Ungewöhnlich viele von ihnen drehten sich um Junkfood. Wir hatten unsere Träume damals einige Wochen lang aufgeschrieben, jedoch nicht viel über sie gesprochen, denn Charlotte hatte rasch das Interesse daran verloren.
Schließlich legte ich meine Träume beiseite und nahm mir den nächsten Stapel. Dort stand kein Name, aber ich erkanntean der reiferen Handschrift, dass es sich dabei um Rose’ Traumnotizen handeln musste. Ihre Schrift war rund und mädchenhaft mit zarten geschwungenen Endungen unten beim A und D. Und tatsächlich begann der erste Absatz so:
Ich war in der Turnhalle, und Mrs. Powers ließ uns auf den ekligen alten Turnmatten einen Kopfstand nach dem anderen machen. Als sie nicht hinsah, weil sie gerade jemand anders aufs Korn nahm, hockte ich mich hin und krabbelte an den Mattenrand. Ich zog das eine Ende hoch, als wäre die Matte einer von diesen Plastikschlitten, und da sauste sie los. Zuerst fuhr die Matte durch die ganze Turnhalle, und dann, nach einer Weile, hob sie ab. Auf einmal war meine Turnmatte ein fliegender Teppich, und ich schwebte aus der Halle raus und weg von der Schule. Bald war ich so weit oben, dass ich den Boden nicht mehr sehen konnte. Ich weiß nicht genau, wo ich war, aber ich
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