Rosenrot, rosentot
meine Mutter zu ihrer Schicht gefahren war, beschloss ich, noch einmal zur Bücherei von Waverly zu fahren. Etwas von dem, was meine Mutter gesagt hatte, trieb mich dorthin: Immerhin hatte es erst kurz vorher diesen Unfall mit dem Jungen gegeben, der seitdem gelähmt war.
Ich wollte das Gedicht im Looking Glass nachschlagen undsehen, ob ich etwas über Brian Pilkingtons Unfall fand. Mir war gar nicht mehr bewusst gewesen, dass der Unfall und Rose’ Verschwinden so dicht beieinandergelegen hatten. Genau genommen hatte ich den Unfall völlig vergessen, als Rose verschwand.
Zuerst ging ich zu den Ordnern mit den alten Schulzeitungen und schlug das Gedicht nach, das mir bei meiner Mutter eingefallen war.
Diesmal klopfst du an seine Tür –
eine schöne Hütte auf einem sattgrünen Hügel
mit Obstbäumen und Sonnenschein
und Kindern in Kitteln, die lächelnde Löwen streicheln.
Als er die Hüttentür öffnet,
schaut er warmherzig und nachsichtig,
und er berührt sanft dein Gesicht.
Aber dann bewegt sich seine Hand dein Kinn hinauf und in
deinen Mund,
und er reißt dir einen Eckzahn aus.
Er hält ihn hoch, damit du ihn sehen kannst, und sagt:
»Du darfst ihn behalten. Du kannst so viele haben, wie du
willst.«
Er reißt auch einen Schneidezahn aus
und lässt beide auf seine Fußmatte fallen,
als wollte er sagen:
»Behalt deine stinkenden Zähne«,
und dann knallt er seine leuchtend rote Tür vor dir zu.
Ich war mir zwar nicht ganz sicher, was ich damit anfangen sollte, hatte aber das Gefühl, dass die Verbindung zu Brian Pilkington diffuser war, als ich eben noch geglaubt hatte.Trotzdem klemmte ich mir den Ordner unter den Arm und fragte die Frau mit der Hörnchenlocke nach alten Ausgaben der Valley Voice .
Es dauerte nicht lange, bis ich etwas über Brians Unfall fand. Ich wusste, dass er sich in den Wochen vor Rose’ Verschwinden ereignet hatte und während der Schulzeit, womit nur September und Oktober infrage kamen.
In der Ausgabe vom 21. September 1990 wurde ich fündig:
ZUSTAND DES TEENAGERS AUS WAVERLY
NACH UNFALL AUF ROUTE 5 KRITISCH
Brian Pilkington, 16, fuhr auf der Route 5 in östliche Richtung, als sein Wagen nach rechts ausscherte und von der Straße abkam. Sein Datsun stürzte in eine Schlucht und krachte dort gegen einen Baum. Die Polizei geht davon aus, dass er mit stark überhöhter Geschwindigkeit fuhr und eventuell einem Reh oder einem Hund ausweichen wollte. Sein Zustand gilt als kritisch.
Bei dem Wort »Datsun« wurde mir schwindelig. Ich blätterte im Looking Glass , bis ich die Stelle fand:
Du läufst durch ein Feld im Sonnenschein.
Ein roter Datsun jagt dir nach,
lässt den Motor heulen und pflügt
Gras und Wildblumen.
Du bist atemlos und verschwitzt,
als du den Wiesenrand erreichst,
wo ein gebogenes Steintor den dichten Wald bewacht.
Konnten wirklich beide Übereinstimmungen zufällig sein? Wahrscheinlich nicht. Ich las abermals alle anderen Gedichte, suchte nach weiteren Anspielungen auf Brian oder seinen Unfall. Zwar konnte ich keine entdecken, doch ich wusste auch kaum etwas über ihn und das, was damals passiert war. Also war es durchaus möglich, dass es noch mehr Andeutungen gab, ich sie aber schlicht übersah.
Die Verbindung zwischen dem Looking Glass und Rose’ Träumen war zu offensichtlich, um Zufall zu sein. Hier hatte sich eindeutig jemand die Traumbeschreibungen angesehen und sie dann ausgeschmückt – und zumindest ein paar dieser Ergänzungen bezogen sich auf Brian Pilkingtons Unfall. Aber wer würde 1996 an den Unfall denken und darüber schreiben – sechs Jahre später? Vielleicht hatten sich beide Tragödien in Charlottes Erinnerung vermischt. Schließlich war sie noch sehr jung gewesen, als all das geschah. Und auch wenn sie es leugnete und mir die Gedichte in die Schuhe schieben wollte, schien Charlotte für mich immer noch am ehesten als Verfasserin infrage zu kommen. Wer sollte es sonst sein?
Doch bereits in dem Moment, in dem ich mir diese Frage stellte, fiel mir eine weitere Möglichkeit ein: Sally Pilkington, Brians Schwester. Wieso war ich nicht früher auf sie gekommen? Natürlich würde sie sich auch Jahre später noch für den Unfall ihres Bruders interessieren, schließlich war er seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt. (Ich erinnerte mich, dass Charlotte dauernd das Wort »paraplegisch« benutzte, bis ich am Ende aufgab und es nachschlug.) Sally war klug und zusammen mit Charlotte in einige der Begabtenkurse gegangen, in
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