Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
Vom Netzwerk:
wollte ich lieber noch einmal darüber nachdenken und dann von Charlottes PC aus eine neue Nachricht schicken? Oder gar keine? Ja, das war gewiss die beste Option. Ein kleines Fenster in der Bildschirmecke ließ verlauten, dass mir noch zwei Minuten blieben. Ich könnte eine Verlängerung buchen oder die Zeit auslaufen lassen. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, klickte ich auf »Abschicken«.
    »Scheiße«, murmelte ich eine Sekunde später. Was für eine bescheuerte E-Mail! Genau die Art von Mail, die eine inzwischen reifere und gesetzte Sally Pilkington-Moore würde brauchen können. Dann las ich wieder die Gedichte im Looking Glass . Nach dem zweiten Mal schien es mir höchst unwahrscheinlich zu sein, dass Sally sie geschrieben hatte. Die Anspielung auf die Zeugen Jehovas war spöttisch und oberflächlich, die auf den Unfall ihres Bruders extrem schwammig. Sally war ein nachdenklicher Mensch und hätte sicher sehr sensibel über die Schwierigkeiten ihres Bruders geschrieben. Nein, wenn ich es mir so recht überlegte, hätte sie solche Sachen eher gar nicht geschrieben. Wie ich schon zu Charlottegesagt hatte, war ich während der Highschoolzeit niemand gewesen, der sich »in den Vordergrund spielte«, und das Gleiche galt auch für Sally. Sally war uns schon alt vorgekommen, als wir alle erst dreizehn waren. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
    Wenigstens hatte ich nicht geschrieben, worum genau es ging. Falls sie also tatsächlich antworten sollte, könnte ich mir immer noch irgendetwas anderes ausdenken, worin Charlotte und ich uneins waren und was Sally klären könnte. Doch sicher löschte sie die Nachricht sowieso sofort. Durchgeknallte alte Nora Reed! Wie peinlich. Warum war ich gestern nach dem »7-Eleven« nicht einfach aus Connecticut geflohen? Was tat ich hier denn noch? Wieso musste ich alte Highschoolwunden wieder aufreißen? Was war das nur mit dieser blöden Schulzeitung, das mich nicht in Ruhe ließ und mich hierher zurückgelockt hatte?
Geist über Materie
November 1990
    Die Polizei sprach nie direkt mit mir. Es gab keine nachgestellten Abläufe mit Puppen, kein »Nora, kennst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Lüge?«, wie ich es aus den Filmen kannte, die meine Mutter sich ansah. Es gab bloß meine Mutter und mich, wie wir an Mrs. Crowes Haustür standen und erklärten, dass Rose mich wie immer nach Hause gebracht habe und nichts Ungewöhnliches passiert sei. Das meiste sagte meine Mutter, während ich nur zustimmend nickte.
    Zu diesem Zeitpunkt war in Waverly bereits allgemein bekannt, dass Rose’ Eltern davon überzeugt waren, dass sie an dem besagten Tag nie zu Hause angekommen war. Die Einzelheiten hatten in der Zeitung gestanden: Als ihre Eltern aus dem Restaurant zurückkehrten, waren ihre Jacke und ihre Schultasche nicht da. Und die Packung mit den Pekannuss-Keksen, die ihre Mutter ihr hingelegt hatte, war nicht angerührt worden – also hatte Rose sie gar nicht gesehen, wie ihre Mutter immer wieder versicherte.
    Indes reichte eine ungeöffnete Kekspackung dem leitenden Ermittler nicht, um die Möglichkeit auszuschließen, dass sie weggelaufen war, oder um einer Elfjährigen mit einer intensiven Befragung Angst zu machen.
    Charlotte glaubte mir zwar, dass ich nichts Ungewöhnliches gesehen hatte, fand aber auch, dass die Polizei einen großen Fehler machte.
    »Vielleicht erinnerst du dich nicht daran, etwas Komisches gesehen zu haben«, sagte sie nachmittags im Bus zu mir. Es war der neunte Tag, den Rose vermisst wurde. »Aber das heißt nicht unbedingt, dass du tatsächlich nichts gesehen hast.«
    Die schwarzen Bücher kamen wieder zum Vorschein und erwachten unerwartet zu neuem Leben – auch wenn die Hälfte von ihnen inzwischen braun war. Zweimal schon war Charlotte in dieser Woche im Unterricht ermahnt worden, ihr Buch wegzupacken; deshalb hatte sie angefangen, die Bände in braunes Einkaufstütenpapier einzuschlagen, sodass sie zwischen ihren Schulbüchern nicht auffielen.
    »Ich weiß, dass manche ihre Zweifel an der Methode haben, aber man kann Zeugen hypnotisieren und so mehr Informationen erhalten. Und bei so einem großen Fall muss die Polizei doch eigentlich alle Ressourcen nutzen, die sie hat, findest du nicht?«
    Ich nickte, obwohl ich nicht begriff, was Ressourcen damit zu tun hatten. In Sozialkunde, wo wir auch die Hauptstädte und Amtssprachen verschiedener Länder lernten, hatten wir über Ressourcen gesprochen: Blei, Gold, Mais,

Weitere Kostenlose Bücher