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Rosenrot

Titel: Rosenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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sammeln.
    »Bist du sicher, dass du sie gesehen hast?« fragte Jan-Olov Hultin vom Katheder. Er blickte durch seine Minilesebrille auf die Sonntagsschüler hinab und sah aus wie eine naturwidrige Kreuzung zwischen einem Oberstufenlehrer und einer Eule.
    Alles war mit anderen Worten normal. Nur dass Kerstin fehlte.
    Die A-Gruppe sah zur Tür. Sie blieb geschlossen.
    »Ich habe ihr sogar zugewinkt«, sagte Hjelm. »Sie hat zurückgewinkt. Sie muss ein wichtiges Telefongespräch bekommen haben oder akute Diarrhöe oder etwas in der Art.«
    »Das ist ja ungefähr das gleiche«, sagte Hultin und kratzte sich mit der Kugelschreiberspitze im Augenwinkel. Es sah gefährlich aus. Ein abruptes Husten, und er wäre blind gewesen. Wenn nichts Schlimmeres.
    Schweigen. Stühle scharrten. Jemand räusperte sich. Die Stimmung hätte leicht als schläfrig missdeutet werden können. Aber sie war geschärft bis an die Zähne. Dass man die Verspätung ohne Murren hinnahm, deutete den Ernst der Stunde an.
    Es war schließlich Hultin, der zuerst die Geduld verlor – was sogar ihn selbst zu überraschen schien. Der Kugelschreiber flog in weitem Bogen davon und landete zwischen Gunnar Nybergs Ruderblättern von Füßen.
    »Himmelarschundzwirn«, stieß er brüsk aus. »Geh mal einer nachsehen.«
    Hjelm ging und sah nach. Als er die Tür öffnete und in den Flur schaute, hatte er den Eindruck, dass gerade jemand um die Ecke am hintersten Ende des Gangs verschwand. Aber es war vermutlich eine optische Täuschung.
    Er schaute in die Damentoilette. Niemand dort. Er ging in ihr Büro. Da war sie auch nicht. Er rief ihr Handy an. Der Anrufbeantworter meldete sich kurz. Er sprach eine ebenso kurze Nachricht aufs Band.
    »Wo zum Teufel bist du abgeblieben! Sag nicht, die bösen Trolle hätten dich geraubt. Wehrlose Frau.«
    Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und kehrte in die Kampfleitzentrale zurück. Viele Blicke richteten sich auf ihn. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Nein. Sie hat sich in Luft aufgelöst.«
    »Dann fangen wir jetzt an«, sagte Jan-Olov Hultin.
    Keiner wollte spontan anfangen. Also musste er es selbst tun. Und besonders spontan wurde es auch nicht. Er zeigte mit einem nagelneuen Kugelschreiber über seine Schulter und sagte: »Ihr habt ja an der Flipchart das Schema unseres Falls gesehen. Es gibt viele Enden, von denen aus man versuchen kann, ihn aufzudröseln. Ich schlage vor, dass du anfängst, Paul.«
    Paul Hjelm schnitt eine kleine Grimasse. »Das ist eine gute Strategie. Bei dem anzufangen, der am wenigsten zu sagen hat. Denn ich habe praktisch nichts Neues.«
    »Okay«, sagte Hultin. »Es dürfte sinnvoll sein, mit der neuentdeckten Beziehung zwischen Dag Lundmark und Ola Ragnarsson anzufangen. Arto?«
    Alle waren auf eine geschliffene Darstellung gefasst. Söderstedt räusperte sich und setzte an: »Rudhagens altehrwürdige Privatklinik in Mälardalen liegt auf dem Land, ungefähr zwanzig Kilometer von Eskilstuna entfernt. 1967, bei der Gründung, war die Ausrichtung klassische Psychiatrie. Weil man damals noch keinen Kontakt mit dem staatlichen Gesundheitssystem hatte, war die Behandlung den Bessergestellten vorbehalten. Der seelisch kranken Oberklasse. 1984 kommt ein sehr kaputter Mensch in die Klinik. Die Diagnose lautet
    schwere und akute Schizophrenie. Sein Name ist Ola Rag narsson. Er hat gerade seinen Anteil an einer extrem erfolgreichen Kette von Investment-Gesellschaften auf den Cayman Islands verkauft. Nach einer allem Anschein nach sehr harten Kindheit und Jugend in Vallentuna hat Ragnarsson sich ordentlich revanchiert. 1982 macht seine Kette genauso viel Umsatz wie das Bruttosozialprodukt von Guatemala. Die Zentrale liegt in Monte Carlo. Schöne Frauen umschwärmen seine Brieftasche. Die schönste ist die Bankangestellte Claudine Verdurin. Sie begegnen sich im Frühjahr 1983. Ragnarsson verliebt sich schwer. Dass sie nicht ebenso verliebt ist in ihn, zeigt die Tatsache, dass sie schwanger wird, ohne ihm etwas davon zu sagen, und eine Abtreibung vornimmt, ohne ihm etwas davon zu sagen. Eines Abends im Spätsommer 1984 macht sie Schluss. Ola ist am Boden, er klammert sich an sie, bittet, fleht, bettelt, aber Claudine ist unerbittlich. Im Zorn schleudert sie ihm die nackte Wahrheit an den Kopf. Und da sieht sie, wie etwas in Ola zerbricht, etwas Lebenserhaltendes. Schon am nächsten Tag verlässt er Monaco und veräußert sein ganzes Unternehmen.«
    Söderstedt blickte sich um und ließ die Worte

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