Rosenschmerz (German Edition)
drohenden Ersticken zu begegnen, öffnete er das Fenster
und blickte hinunter auf die Papinstraße. Alles war ruhig. Im letzten Moment
sah er auf dem gegenüberliegenden Gehsteig im Schein der Straßenleuchten etwas
blinken. Es war das Feuerzeug, das er hinausgeschleudert hatte. Er nahm sich
vor, es morgen zu entsorgen. Dann fing er an zu frieren und legte sich ins
Bett.
Im Fall Kirchbichler sah es verdammt nach dem Versuch eines
perfekten Verbrechens aus. Chili und er standen vermutlich am Beginn eines
langen Wegs.
VIERTER TAG
Ein paar Minuten nach halb acht fuhr Ottakring mit dem Rad
in der Papinstraße los. Obwohl wetteronline.de üppige Schneefälle für Rosenheim
vorhergesagt hatte, ließ er sich diese Freude nicht nehmen. Er stülpte sich
eine Baseballmütze über den Kopf und setzte eine Schweißbrille gegen die
Zugluft auf. Zu dieser Stunde war es noch still in der Stadt. Nur an der
Einmündung der Münchener in die Bahnhofstraße, beim Zitzlsberger, parkten Autos
auf beiden Seiten in der zweiten Reihe. Ein Linienbus kam nicht durch, und der
Fahrer hupte ununterbrochen. Ottakring gondelte gemächlich vorbei und konnte
sehen, wie der Fahrer Gift und Galle spuckte. Er musste kurz vor einem Infarkt
stehen. Sterben wir Bayern früher?, fragte er sich. So wie wir uns immer wegen
Kleinigkeiten aufregen. Er konnte sich selbst nicht davon ausnehmen. Aber
Rosenheim war nun mal die nördlichste Stadt Italiens. Und wer hatte je
behauptet, Italiener seien ruhig und gelassen?
Inzwischen fielen Schneeflocken so dick wie Wattebäusche vom Himmel.
Über den Straßen und an vielen Häusern erstrahlte weihnachtliches Licht. Die
Praxis Dr. Vach befand sich im dritten Stock des Hauses der Marienapotheke am
Max-Josefs-Platz. Die Fenster waren hell erleuchtet. Ottakring zog einige
Schleifen durch die dunklen Buden des Christkindlmarkts und stieß vor der
Metzgerei Angerer direkt auf die wartende Chili.
Fröhlich kaute sie auf der unvermeidlichen Schote herum, die ihr den
Namen eingebracht hatte. Chili hatte verschiedenfarbige Augen und einen dunklen
Teint. Sie behauptete steif und fest, auf wundersame Weise von Mexikanern
abzustammen. Chili sah alles und prägte sich alles ein. Ottakring baute auf
ihre ausgeprägte Wachsamkeit. Eine Eigenschaft, die sie zum Bluthund machen
konnte.
Es war sieben Uhr zweiundvierzig, als sie die Praxis betraten. In
den leeren Räumen fielen sofort die vielen Bilder an den Wänden auf. Dahinter
steckten offenbar nicht nur, wie so oft, steuerliche Gründe. Aus den abstrakten
und gegenständlichen, leicht impressionistisch angehauchten Gemälden und Lithos
sprach Kunstverstand. Dr. Vach hatte Ottakring und Chili vor dem Beginn der
allgemeinen Sprechstunde einbestellt. Nun saß er ihnen gegenüber.
»Kirchbichler lag da wie eine normale Leiche«, sagte er. »Etwas
gekrümmt vielleicht, weil er von der Bank gerutscht war …« Dem Internisten
schien ein Gedanke zu kommen. Er sprang auf und war in zwei, drei mächtigen
Schritten draußen.
Mit einem durchdringenden Lachen kam er zurück. Triumphierend hielt
er eine Kamera vor den Bauch. »Na, wie bin ich?«, sagte er, wieder begleitet
von dröhnendem Lachen. »Da ist er drauf, der liebe Niki. Ich hab doch immer und
überall meine Digi dabei.« Er wurde ernst. »Als der so einfach tot dalag, hab
ich sie sofort aus dem Auto geholt. Dass der Kirchbichler so plötzlich stirbt,
das hätte nicht passieren dürfen. Da, schauen Sie. Er war gar nicht der Typ
dafür.«
Sie sahen Kirchbichler nackt und leicht gekrümmt auf den Bohlen der
Sauna liegen, einen Arm weit von sich gestreckt.
»Natürlich, man kann sich richtig vorstellen, wie er von der Bank
gerutscht ist«, sagte Chili.
»Und es nicht mehr zur Tür geschafft hat«, ergänzte Ottakring. Er
war sich sicher, dass Chili in diesem Augenblick das Foto in einem Winkel ihres
Gehirns abspeicherte.
Es gab mehrere Fotos mit demselben Motiv.
»Sie waren doch auch Herrn Kirchbichlers Hausarzt«, mischte Chili
sich ein. »Hatte er gesundheitliche Probleme? Im Fernsehen wirkte er doch immer
happy und gesund. Der wandelnde Glücksbringer.«
Vach nickte nachdenklich. »Jaja, im Fernsehen. Hinter den Kulissen
sieht’s dann im richtigen Leben oft ganz anders aus.«
»Das Tox-Gutachten der Rechtsmedizin spricht von einem drastisch
erhöhten Wert eines Antidepressivums. Also hatte er Depressionen.« Ottakring
nahm Vach direkt ins Visier. »Selbstmord?«
Vach schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er
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