Rosenwahn
nur, dass die Angst, dass sie kommen und mich bestrafen würden, mich noch einige Jahre begleitet hat.«
Angermüller merkte, dass die Zeugin vielleicht selbst gar nicht wissen wollte, ob ihre Brüder zu einer solchen Tat fähig gewesen wären, und er konnte diese Reaktion auch verstehen.
»Ich hab mich jetzt eigentlich nur bei Ihnen gemeldet, weil ich wissen wollte, was mit Meral passiert ist, und ich dachte, ich kann ja vielleicht irgendwie nützlich sein. Und wegen der Beerdigung …«
»Wie konnten Sie denn mit Ihrer Nichte Kontakt haben, wenn die Familie mit Ihnen nichts mehr zu tun haben wollte?«
»Nicht oft, vielleicht zweimal im Jahr, bin ich in Lübeck, alte Freunde besuchen, und als meine Nichten in die Schule kamen, habe ich Meral und ihre Schwester bei diesen Besuchen ein paar Mal getroffen. Die Frau meines jüngeren Bruders, die mich auch jetzt informiert hat, ist die Cousine einer Freundin von mir. Sie hat das arrangiert, heimlich natürlich. Wir sind spazieren gegangen oder ein Eis essen. Als Meral zunehmend eigene Vorstellungen für ihre Zukunft entwickelt hat und es zu Hause deswegen Probleme gab, wollte Sibel mit mir plötzlich nichts mehr zu tun haben. Sie war 13 oder 14 damals und von der Situation total überfordert. Schon die ganze Geheimnistuerei! Ich glaube, sie wollte sich auch gegen ihre ältere Schwester abgrenzen und hat sich halt für Loyalität gegenüber ihren Eltern entschieden.«
»Und Meral?«
»Das Mädchen war todunglücklich. Niemand möchte seinen Eltern wehtun, verstehen Sie das? Ich wollte das damals nicht und Meral wollte es auch nicht. Wir haben in dieser Zeit oft telefoniert. Sie hat mich auch zweimal in München besucht. Ich habe mich sehr über ihr Vertrauen gefreut. Sie war wie eine Tochter für mich.« Wieder wurde die Frau am anderen Ende der Leitung von der Rührung überwältigt.
»Hat Sie Ihnen von dem deutschen Jungen erzählt, in den sie sich verliebt hatte?«
»Ja, das hat sie. Meral war so froh, in mir eine Erwachsene zu haben, der sie sich anvertrauen konnte. Und durch meine eigene Geschichte war ich wohl auch so eine Art Vorbild für sie.«
»Und wie war das mit dem Jungen?«
»Das war ganz lieb! Eine völlig harmlose Geschichte. Er war wohl auch eher einer von den Schüchternen. Ein bisschen Händchenhalten, ein paar erste Küsse vielleicht, mehr bestimmt nicht. Für Leute wie meine Brüder ist das allerdings schon genug gewesen.«
»Die Beziehung zu diesem Jungen hat ja nicht allzu lange gedauert, oder?«
»Da wohnte Meral doch noch zu Hause! Und ihre Eltern, ihr Bruder, ihre Schwester, alle waren gegen sie. Sie durfte nicht mehr allein das Haus verlassen, natürlich wurde sie auch geschlagen. Irgendwann hat sie diesem Druck einfach nicht mehr standgehalten und lieber Schluss mit dem Jungen gemacht.«
»Und wie hat der Junge reagiert?«
»Sie hat mir damals nur gesagt, dass er sehr traurig war.«
»Und wenig später ist sie dann zu Hause ausgezogen?«
»Ja, ein paar Wochen darauf hat sie das Notwendigste zusammengepackt und ist zu Hause weg. Genau wie ich damals. Heimlich, mit großer Angst und ganz großem schlechtem Gewissen. Das ist ja das Verrückte! Dass man sich trotz allem auch noch schuldig fühlt!«
»Meral ist bei Freundinnen untergekommen?«
»Ja, sie hat öfter die Unterkunft gewechselt, aus Angst, dass sie sie finden. Um zur Schule zu kommen, hat sie auch alle möglichen Tricks und Schleichwege gefunden. Es war ganz furchtbar für das Mädchen. Nach außen hin hat sie zwar unheimlich aufgedreht, Partys gefeiert, Nächte durchgetanzt, getrunken, aber sie war die meiste Zeit todunglücklich. Einmal hab ich sie gesehen in der Zeit. Ich war erschrocken, wie schlecht es ihr ging. Ich muss gestehen, ich hatte Angst, dass sie sich was antut, so verzweifelt war sie. Sie glauben ja nicht, wie mich das gequält hat. Ich hätte sie so gern öfter besucht, ihr beigestanden. Aber München ist halt nicht um die Ecke von Lübeck. Ich bin ja auch berufstätig und konnte nicht ständig zu ihr hochfahren.«
»Was machen Sie beruflich, Frau Erden?«
»Ich arbeite als Erzieherin in einer Freizeiteinrichtung für Mädchen aus Migrantenfamilien.«
»Ah ja. Wann haben Sie denn Ihre Nichte das letzte Mal gesprochen?«
»Das weiß ich noch genau. Es war der letzte Sonntag im Mai damals, als sie anrief. Und sie machte einen wesentlich besseren Eindruck als die Male vorher. Ich war zwar etwas überrascht, aber ihre gelöste Stimmung erschien mir
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