Rosenwahn
himmelschreiende Ungerechtigkeit betrachtete, war die Küche, in der wahrscheinlich außer Kaffee nichts gekocht wurde: Ein riesiger Profiherd mit sechs Flammen, eine tolle Spüle mit mehreren Becken, das Innenleben der geräumigen Schränke kam mit lautloser Leichtigkeit herausgeschwebt, die Türen waren aus gebürstetem Stahl und die Arbeitsflächen polierter Naturstein. Was für eine Verschwendung! Derya dachte an ihre eigenen Räumlichkeiten, in denen sie die manchmal riesigen Aufträge abarbeitete. Sie hatte sich die Küche gebraucht zusammengekauft, die immer noch an vielen Stellen ziemlich provisorisch war. Und sie würde wohl noch eine Weile mit diesem Dauerprovisorium leben müssen, denn für eine große Investition fehlte ihr immer noch der Mut. Sie konnte von ihrem Cateringservice leben, aber darüber hinaus warf Deryas Köstlichkeiten nichts ab, und als Derya bei ihrer Bank um einen Kredit nachsuchte, hatte der Kundenbetreuer nur müde abgewinkt.
»Also, nach dem Primo, das sind die gefüllten Nudeln in Safransoße, folgt der Hauptgang, der Secondo«, erklärte sie geduldig ihrer Auftraggeberin. »Der Wolfsbarsch braucht ungefähr eine halbe Stunde bei 180 Grad, und nicht vergessen, immer schön mit der Wein-Öl-Mischung begießen, die sich unten in der Pfanne sammelt. Dann bringen Sie den Fisch mit frisch aufgeschnittenem Weißbrot auf den Tisch und Sie werden sehen, Ihre Gäste werden sich nach dem Jus die Finger lecken!« Die Frau lauschte aufmerksam Deryas Erläuterungen. »Und dann kommt das Dessert und das ist ja eine ganz leichte Übung: Sie verteilen einfach die Panna Cotta in die Dessertschälchen, geben das Erdbeermark darüber, legen je zwei von diesen Bitterschokostäbchen gekreuzt darüber und oben drauf noch eine von diesen Erdbeeren – fertig. Steht alles im Kühlschrank.«
Ihre Kundin nickte gehorsam. Derya liebte ihren Job. Sie kochte für ihr Leben gern. Für sie war das Kochen eine künstlerische Tätigkeit. Natürlich bedurfte die gewisser handwerklicher Fähigkeiten, aber die brauchte ein Maler oder Bildhauer auch. Sich immer neue Varianten von Köstlichkeiten aus Fisch, Fleisch und Gemüse auszudenken, sie zuzubereiten und festzustellen, sie schmeckten so, wie sie es sich in ihrer Fantasie vorgestellt hatte, fand Derya sehr erfüllend. Ob Gerichte aus Indonesien oder Österreich, der Türkei oder Mexiko – sie holte den Geschmack der ganzen Welt in ihre Küche. Leider waren ihre Kunden nur viel zu selten zu Experimenten bereit und wollten immer wieder das Altbekannte.
»Und Sie sind also Türkin. Das sieht man Ihnen ja gar nicht an! Und dass Sie als Türkin so perfekt die italienische Küche beherrschen, finde ich ja toll«, versuchte sich Deryas Kundin mit einem Kompliment, als sie ihr half, die Kisten mit den geleerten Töpfen, Schüsseln und Platten ins Auto zu tragen. Statt einer Antwort lächelte Derya nur.
Nun ja, man lernte bei diesem Job eben die unterschiedlichsten Menschen kennen. Schon lange regte sich Derya über derlei gedankenlose Sprüche nicht mehr auf. Sie fand die Kontakte zu den vielen Leuten nach wie vor interessant und sehr bereichernd. Nicht nur, weil sie sich gern unterhielt und etwas über die Leute erfahren wollte, nein, so konnte sie auch immer neue Typen für ihre schauspielerischen Ambitionen studieren. Denn auch wenn sie stets mit sanfter Ironie darüber sprach, die Hoffnung auf eine Schauspielkarriere hatte sie immer noch nicht ganz aufgegeben. Erst vor Kurzem hatte sie neue Fotos machen lassen und sie einem Agenten geschickt, den ihr eine Kommilitonin aus der Schauspielschule empfohlen hatte. Die Fotos hatten ein Heidengeld gekostet, aber alle ihre Freundinnen hatten gesagt, dass die so gut geworden seien, dass sie damit sicher nach Hollywood käme – nur müsste irgendein Regisseur oder Produzent sie eben mal zu Gesicht bekommen. Bis jetzt hatte der Agent sich nicht gemeldet. Also hoffte Derya weiter, hielt die Augen offen nach wichtigen Kontakten, die in Hamburg sicherlich leichter als in Lübeck zu finden gewesen wären, und träumte ihren Traum. Schon wegen Koray konnte sie so bald nicht aus Lübeck weg – und außerdem war diese Stadt ihr Zuhause. Und so blieben Deryas Köstlichkeiten vorerst ihre einzige Bühne.
Derya rechnete noch mit ihrer Kundin ab, hoffte, dass die mit Nudeln kochen und Fisch garen nicht überfordert war und ihren Gästen das Menü in der Qualität vorsetzen würde, die sie ihr geliefert hatte. War ja auch nicht so
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