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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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immerhin nicht mehr im Wind. Nein, in Bewegung bleiben. Weiter vorne
Lichter. Du bist hungrig, das ist alles. Hol dir was zu essen, du wirst sehen,
ich hab recht. Zu vierzig Prozent werden Kalorien umgewandelt in verschwendete
Wärme. Na schön, du hast mich überzeugt. Ich hol mir was zu essen, werden
sehen, ob du recht hast. Kalt genug für Schnee, die Luft ist nur zu trocken,
ja, man wird bescheiden. Macht nichts. Viele Lichter gibt’s da vorn, anderthalb
Kilometer ungefähr. Den nächsten Schritt. Und achte auf dein Tempo. Bald wirst
du Entscheidungen zu treffen haben.

2 . Grace
    Billy war erst seit drei Tagen weg, doch in der Stadt wussten
es alle. Bei der Arbeit ging es höflich zu, aber sie hörte, wie sie redeten, am
schlimmsten Kyla Evans und Lynn Booth, und Graces Freundin Jenna Herrin war
kein bisschen besser, sie stammten alle aus Buell und hatten Billy Football
spielen sehen. Wie hart er bei den Spielen andere Kinder anging – »Sah man doch
sofort, dass es ihm etwas zu viel Spaß machte …« »Wenn er den Kerl da bloß
erschossen hätte oder so, ja, aber …« »Wenn du einem so den Schädel
einschlägst, überlegst du dir das doch …« Grace hielt den Blick gesenkt,
versuchte nicht darauf zu hören, schob den Stoff durch die Maschine, machte
sehr gerade Nähte.
    Als sie auf dem Heimweg von der Arbeit noch im Giant-Eagle -Supermarkt
einkaufte, traf sie Nessie Campbell, und sogar die fette alte Nessie tat so,
als ob tiefgefrorener Fisch sie brennend interessierte, bis Grace ihren Korb
zur Kasse trug, dieselbe Nessie Campbell, die dir auf der Straße nachlief und
keine Gelegenheit ausließ, dir ihren Avon-Plunder anzudrehen.
    Zu Hause war es kein Stück besser. Dieser Tag war trübe gewesen, und
es war kalt im Trailer. Schleunigst ab unter die Decken, dann würd’s gehen.
Heute war der 15 . April, es hätte nicht so kalt sein
dürfen. Steuern fällig, dachte sie. Sie war damit nicht fertig, letzte Woche
hatte sie begonnen, aber dann war alles losgegangen. Trotzdem, wie hatte sie
das vergessen können? Sie trat an den Tisch und schlug die Mappe auf und
überflog die Formulare, aber es war zwecklos. Konnte nicht klar denken. Steuern
waren die geringste Sorge.
      Billy würde klarkommen,
denn er war groß und kräftig. Er war groß, doch nicht aus ihrer Sicht, sie
konnte ihn verglichenmit den anderen so sehen, aber selbst nahm sie ihn
nicht so wahr. Dann dachte sie aus irgendeinem Grund an ihren Vater, achtzehn
Jahre hatte sie ihn nicht gesprochen, aber immer noch versuchte er zu Ostern
und zu Weihnachten, sie anzurufen. Er hatte vor zwanzig Jahren ihre Mutter sitzenlassen.
Ihre Mutter war kein sehr flexibler Mensch, sie hatte nicht ertragen, was im
Tal passierte und dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn im Souterrain des
Hauses wohnten, Geld verdiente keiner, über Nacht schien sich die Stadt zu
wandeln, Autos wurden aufgebrochen, leere Häuser ausgeräumt, vor denen
Rasenflächen zu Gebüsch verwilderten.
    Es hatte sie verändert, ständig vögelte sie durch die Gegend, das
ging so bis 1987 , bis ihr Vater eines Abends
ankündigte, dass er weggehe, er brauche Abstand zu all dem. Zu Anfang hatte ihm
Grace das nicht vorgeworfen, und dann doch, dann hatte sie es ihm verziehen,
und dann warf sie es ihm wieder vor. Es war ein mutiger Akt, irgendwie. Die
Kinder waren alle groß, er hatte ihrer Mutter viel Geld dagelassen. Dass mit
ihrer Mutter irgendjemand glücklich war, schien Grace nicht vorstellbar. Ihr
Vater ging nach Texas, und sie rief ihn nie zurück. Noch immer meldete er sich
zu Ostern und zu Weihnachten, sie ging aber nicht dran. All das lag ihr jetzt
wie ein Mühlstein um den Hals. Die meisten ihrer besseren Erinnerungen knüpften
sich an ihren Vater, und er hatte sich doch nur in Sicherheit gebracht. Und
ihrem Leben gleichzeitig ein Bein gestellt, jetzt lag die Last, ihre labile
Mutter aufzufangen, ganz auf Graces Schultern. Das war wohl der wahre Grund,
warum sie ihn niemals zurückgerufen hatte. Selbstsucht, dachte sie. Jetzt, wo
du auch mal Hilfe brauchst, kannst du es sehen.
    Es gab Bud. Auch wenn sie sich ermahnte, mach dir nicht zu große
Hoffnungen – irgendwohin schien es zu führen. Nein, sie würde nicht alleine
sein, denn da war jemand, der sie liebte, jemand, den sie lieben konnte.
Allerdings, das Hochgefühl der letzten Nacht und von heut Morgen, als sie neben
ihm erwachteund sie sich noch einmal liebten, war verblasst, geblieben war
die Sorge. Billy.
    Ihren Bruder Roy, den

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