Rost
Fitnessstudio nicht gern gesehen. Lee war froh, dass
sie im Sweatshirt da war, ohne Make-up.
»Hallo Süße, schön, dass wir uns sehen. Nicht zu fassen, dass du
schon so bald zurückgekommen bist. Das war doch Weihnachten, nicht?«
Lee betrachtete sie. »Ja, ich glaube, es war letztes Weihnachten.«
»Gott, ernsthaft?«, sagte Joelle.
»Denke schon«, sagte Lee und tat so, als dächte sie darüber nach.
»Nein, es war vorletztes Weihnachten, also vor anderthalb Jahren.«
»Das sagt einem ja wohl alles, was man wissen muss.« Joelle wiegte
den Kopf.
»Du hast geheiratet«, sagte Christy und tippte auf den Ring.
Lee zeigte ihn. Sie war erleichtert, dass sie den Verlobungsring
jetzt nicht am Finger hatte.
»Glückwunsch, Mädel. Einer von der Schule?«
»Er heißt Simon.«
»Kirchlich oder die moderne Variante?«
»Weder noch, eigentlich«, sagte Lee. »Wir sind zum Friedensrichter
gegangen.«
»Du liebe Güte, sie ist schwanger.«
»Nein. Es war spontan.«
»Wie wir hier reden«, sagte Christy. »Wie der reinste Zickenklub.«
»Wie geht’s euch überhaupt?«
»Ach, fett, alle sind fett. Die Männer stemmen Hanteln und spritzen
sich Steroide in den Arsch, und wir, wir werden einfach fett.«
»Die werden auch fett«, sagte Christy.
Als sie eine gewisse Zustimmung in Lees Gesicht erkannte, sprach sie
weiter:
»Nein, es geht uns allen ziemlich gut. Ich wohne jetzt in meinem eigenen
Haus und zahle meine eigene Hypothek ab. Stehen also gar nicht alle schlecht
da.«
»Christy schlägt sich mit den Spastis rum, da lebt sie von.«
»Mann, Sonderschule«, sagte Christy. »Ich bin Lehrerin für Sonderschüler.«
Sie verpasste Joelle einen spielerischen Schubs. »Du kleine Zicke.«
»Was machst du denn?«
Lee fragte sich, warum sie für diese Frage keine Antwort vorbereitet
hatte. »Tja«, stotterte sie, »ich hab mich hier und dort noch mal an Unis
beworben und, weiß nicht, helfe meiner Schwiegermutter im Büro.«
»Hat er dir wenigstens einen Verlobungsring geschenkt oder so? Ich
seh keinen.«
»Nein, der hat nicht recht gepasst.« In Wahrheit wär’s ihr peinlich
gewesen, ihn hier zu tragen.
»Männer sind doch alle gleich, stimmt’s? Willst du noch was trinken?«
Joelle hätte selber hinter die Bar gehen können, doch sie warteten
stattdessen, bis ihr Onkel rüberkam.
»Das ist jetzt eine komische Frage«, sagte Lee, »aber habt ihr irgendwas
von meinem Bruder gesehen oder gehört?«
»Ich dachte, der wär weg, zur Uni.«
»Nein«, sagte Christy, »er ist noch hier. Man sieht ihn manchmal in
der Stadt.«
»Was macht er denn?«
»Er kümmert sich um unseren Vater«, sagte Lee.
»Wie komisch. Er schien von euch beiden immer der zu sein, der es
eher schafft, hier wegzukommen.«
Lee spürte, wie ihre Ohren warm wurden.
»Ich meine nur, du hast ja immer gut mit Leuten umgehen können. Er
ist mehr der Typ, der so intelligent ist, dass er keinen geraden Satz sagen
kann. Wo man gleich gemerkt hat, der passt anderswo wahrscheinlich besser hin.«
»Ich weiß nicht. Musste sich halt irgendwer um meinen Dad kümmern.«
»Um deinen Dad?« Joelle schüttelte den Kopf. »Ist ja nicht so, als
gäb’s keine Anlaufstellen hier für deinen Dad, nicht wenn man eine
Stahlarbeiterrente hat. Ich meine jetzt, streck deinen Kopf mal aus der Tür und
sieh dich um. Die bauen Türme für die Alten, überall im Tal. Häusliche Pflege
ist so ungefähr der einzige Job, den du derzeit kriegen kannst, Lehrer ist out,
Pflege ist in. Wenn Christy nicht mit diesen Kindern arbeiten würde, wär sie
dabei, Bettpfannen auszuleeren.«
Christy nickte. »Sie hat leider recht.«
»Wahrscheinlich lag’s an deiner Mutter«, sagte Joelle. »So ein Junge
hat oft eine enge Mutterbeziehung. Und wenn dann so was kommt, trifft es ihn
ziemlich schlimm.«
Sie schwiegen, schauten tief in ihre Gläser.
»Und zur Aufmunterung noch was Schlimmeres«, sagte dannChristy,
»könnt ihr euch an Billy Poe erinnern? Aus der Footballmannschaft, erstes Jahr,
als wir vorm Abschluss standen?«
»Klar.«
»Hat einen Penner umgebracht, in so ’ner alten Werkshalle. Er hat
ihn totgeschlagen.«
»Warum ist man überhaupt an so ’nem Ort«, sagte Joelle. »Dass da
nichts Gutes dabei rauskommt, ist doch logisch.«
»Jeder hat Geheimnisse.«
»Was soll das heißen?«
»Vielleicht war er schwul oder so. Die treffen sich oft an merkwürdigen
Orten, ist ja nicht, als könnten sie sich hier verabreden.«
»Ich kann euch garantieren, dass er nicht
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