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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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das
Theater, das er macht. Weil er nicht anders kann. Wie es in seinem Innern
aussehen muss. Nicht soviel anders als bei dir. Auch du wirst einen Teil
von dir absterben lassen, damit du niemals begreifen musst, was du getan hast,
mit dem Schweden. Mitten in dir drin ein kalter weißer Hohlraum. Den dir andere
von außen warmhalten, damit nichts davon an die Welt dringt. Was ist es, das
einen Menschen ausmacht: Liebe, Ehre und Moral. Ein anderer, den er beschützen
kann. Allein der Mensch ist ein vernunftbegabtes Tier. Ein Mensch allein ist
ein vernunftbegabtes Tier. Nimm weg, was anständig ist. Halt dich an dein
Messer. Und mach weiter, bis dich einer stoppt.
    Du kannst so weitermachen oder dich hier rüberbeugen, noch ein
bisschen weiter rüberbeugen, dann käme eine halbe Sekunde Schmerz und dann
nichts mehr. Davor hab ich keine Angst, dachte er. Es hat mit dem Unerledigten
zu tun. Du würdest massenweise davon hinterlassen. Es ist ja nur Poe. Nur Poe , das hast du aber nicht gedacht, als er dich aus
dem Wasser zog.
    Ich habe Glück, dachte er, habe Glück, dass sie mich so nicht sehen
können. Also geh auch. Geh los. Gut. Ich werde jetzt von dieser Brücke
runtergehen. Ich werde jetzt von dieser Brücke runtergehen, ich werde mich
entscheiden.

Fünftes Buch

1 . Poe
    An seinem dritten Tag im Loch kehrte derselbe kleine pummelige
Wärter zurück, klopfte an die Gitterstäbe und befahl ihm, seine Hände für die
Handschellen durchzustrecken.
    »Ich rede nicht mit dem«, sagte Poe. »Heute nicht und nie.«
    »Du musst deine Papiere unterschreiben. Wenn du das nicht tust, hast
du auch keinen Anwalt.«
    »Ich unterschreib nix.«
    »Gott«, sagte der Wärter. »Und ich hatte mich gefragt, warum du hier
bist.«
    Er blieb wartend stehen, für alle Fälle. Poe beschloss, ihn doch zu
fragen. Sich die Frage zu gestatten. Schließlich sagte er: »Kann er auch
herkommen?«
    »Scheiße, natürlich nicht, dein Anwalt kann doch nicht hier in den
Bunker kommen. Dafür gibt es extra oben einen Raum.«
    »Also, ich bleibe, wo ich bin. Er kann ja kommen und mich hier besuchen.«
    »Du bist so ein saudämlicher Knacki, weißt du das.«
    »Noch bin ich nicht verknackt.«
    »Tja, irgendwie hab ich so ein Gefühl, es dauert nicht mehr lange.«
    »Sag ihm, er soll die Papiere schicken.«
    »Mach doch, was du willst«, sagte der Wärter. »Aber jedenfalls, dein
Anwalt ist ’ne Frau. Ist vielleicht interessant für dich zu wissen. Und sie sieht
auch gar nicht schlecht aus.«
    »Wie lang muss ich überhaupt hier unten bleiben?«
    »Nicht zu lang«, sagte der Wärter. »Nicht zu lang.«
    Poe horchte, wie die schlurfenden Schritte des Mannes sich entfernten.
Aus den anderen Zellen des Blocks wurde ihm waszugerufen, doch der Wärter
ging vorbei, als sei er taub und blind. Poe fand, er hatte sich nicht schlecht
geschlagen. War nicht eingeknickt und hatte seine zweite Chance nicht
ergriffen. Aber ob er auch beim dritten Mal nein sagen könnte, da war er sich
unsicher. Er lehnte sich auf seinem Bett zurück. Er konnte einen der J- 8 er hören, einen der Bekloppten, der um Hilfe schrie, die
niemals kommen würde, er schrie schon zwei Tage lang.
    Die ideale Antwort gab es nicht. Entweder war er dran oder Isaac. Es
gab keinen Weg, auf dem sie beide heil aus dieser Sache rauskämen. Auf den Tag,
an dem er aus der Isolationshaft zurückverlegt würde, warteten Clovis und die
anderen schon. So oder so würde es bald ans Eingemachte gehen – ob per Messer
oder durch die Anwältin, das konnte er sich aussuchen. Sobald die Anwältin
erfuhr, wer Otto wirklich umgebracht hatte, würde das an den Staatsanwalt weitergegeben,
und dann würde Isaac sehr bald in seiner Lage sein. Aber wer weiß, vielleicht
konnte er besser damit umgehen. Das war durchaus möglich. Er war kleiner, doch
vielleicht besser dafür gerüstet. Geistig stärker. Du hast ja bloß Angst,
dachte er. Wenn du weiter Angst hast, weißt du schon, wofür du dich entscheiden
wirst.
    Er schloss die Augen und nahm sich das letzte Stück Orange, das er
noch vom Frühstück hatte, Essen brachte ihn auf andere Gedanken. Er lag da,
kaute und wartete darauf, dass dieses leere Gefühl unterbrochen wurde, entweder
er fühlte sich leer oder voll, übervoll, und dazwischen gab es nichts. In
Wahrheit starben ständig Menschen, in jeder Minute. Waren jetzt dabei zu
sterben. Dabei gab es nur ein echtes Wunder, die menschliche Annahme nämlich,
man selber käme nie dran. Würde man aber. Das war die einzige

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