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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Wagen angehalten und warum
er ihn durchsucht hatte oder warum er jemanden nach Waffen abgetastet hatte. Er
hatte gelogen, um die Dinge zu erklären, die er wusste, ohne erklären zu
können, warum er sie wusste.
    Was den Mann in Da Nang anging, hätte all das keinen Sinn gehabt.
Mal wieder ein Raketensperrfeuer, noch nicht mal Sonnenaufgang, Harris warf
sein Dexedrin ein, high und angeödet. Ein Jahr nach der Highschool, es war
Irrsinn, dass sie ihn überhaupt an die Front gebracht hatten. Sein Posten war
in einem der äußeren Bunker bei dem Helikopterlandeplatz. Der Mann trug ein
Paket, vielleicht war’s eine Rucksackbombe – doch das sollte Harris nie
erfahren, er beobachtete ihn bei seinem Weg über den kleinen Deich, der an der
Einzäunung entlangführte, da draußen durfte niemand sein, auf seiner Seite war
es alles Niemandsland aus ausgedörrtem Lehm, dahinter fruchtbargrünes Reisfeld.
Eine Weile wartete er, ob der Mann die Richtung wechselte, das tat er aber
nicht, und bei zweihundert Metern hatte Harris einen leichten Vorhalt gegeben
und dann den Abzug der M 60 durchgezogen, lange
abgedrückt gehalten. Jede fünfte Patrone war ein Leuchtspurgeschoss, er sah,
wie sie den Körper trafen und dann weiter über das grellgrüne Reisfeld flogen.
Doch der Pionier fiel nicht, er stand zuerst nur unbeweglich da, als wollte er
nicht akzeptieren, was gerade ablief, und Harris, verwirrt und irgendwie
beleidigt, drückte nochmals ab und hielt den Abzug fest, obwohl der Vietnamese
längst am Boden lag, und zog über der Stelle, wo der Mann gefallen war, mit den
Leuchtspurgeschossen weite Bögen, so als wollte er mit ihnen ausradieren, was
unstrittig war. Harris verbrauchte einen ganzen Munitionsgurt, und der Boden
seines Unterstands lag voll von den verrußten Messinghülsen.
    Später fanden sie den Mann neben dem Deich, das einzig Menschliche
an ihm waren die letzten Kleidungsfetzen. Hätte auch durch einen Unfall in der
Landwirtschaft passiert sein können. Das Paket war weg. Kein Mensch hielt sich
lang damit auf –ein toter Vietnamese war ein toter Vietcong –, doch Harris
hatte das Gefühl, er müsste jetzt bestraft werden, anstatt so leicht
davonzukommen, schließlich hatte er jemanden umgebracht. Bei seiner
Einsatzbesprechung erklärte er, was er getan hatte, und der gelangweilte
Lieutenant machte nur eine Notiz in seiner Akte. Ein bestätigter Abschuss. Und
fünf Monate später, im Mai ’ 71 , übergaben sie den
Posten den Südvietnamesen, und Bud Harris flog nach Hause. Alle toten Männer
auf der Welt – sie waren mal lebendig gewesen. Das wurde meist vergessen.
    Er erreichte das Revier, Grace fiel ihm wieder ein. Als er das Haus
verließ, hatte sie noch geschlafen, und er küsste sie, doch sie wachte nicht
auf, und plötzlich wusste er, wusste es, weil sie so tief schlief, er wusste,
dass ihr wirklich nicht klar war, was sie sich von ihm wünschte.
    Es würde nicht übermäßig schwierig werden, würde nicht lang dauern,
bis er Murray aufgetrieben hatte, denn Carzano, der den Zeugen stets verfügbar
haben wollte, gab ihm jede Woche 100 Dollar aus der
Staatskasse und nannte es mal eben Zeugenschutz, obwohl den keiner schützte. Es
war einfach Geld, das Murray Clark gebrauchen konnte, und er würde in der
Gegend bleiben, um es weiter zu kassieren, falls nicht jemand, Harris, ihm klar
machte, dass es hier nicht sicher für ihn war. Er würde allerdings sehr
deutlich werden müssen.
    Murray Clark war keine üble Type. Könnte ziemlich einfach werden,
ihn zum Ausreißen zu kriegen. Oder eben nicht. Du tauschst dich gerade ein für
Billy Poe, dachte er. Ja, ich weiß.
    Er parkte seinen Truck, vergaß beinahe, ihn auszumachen, ging in das
Gebäude und nach unten in die Asservatenkammer, ein Gefühl, als ob er auf
Autopilot liefe, dort standen seit dem Umzug in das neue Revier all die alten
Kisten voller Zeugs, da waren welche aus den Fünfzigern dabei, und niemand
würde die je durchgehen, er hatte damals überlegt, sie komplett zu vernichten,
und jetzt wusste er, warum er’s nicht getan hatte. Nach einigen Minuten
Rumwühlen fand er einen 5 -Schuss-Revolver, denvor
vielen Jahren jemand abgegeben hatte, auf dem Schild stand 1974 .
Er betrachtete ihn. Dachte an Grace. Und dann dachte er: Wenn du nur mit ihm
reden willst, wieso nimmst du ihn mit …
    Er prüfte Timing und Zylinderverschluss und betätigte den Abzug, um
sicherzugehen, dass der Schlagbolzen auch bis zum Anschlag fiel. Dann ging er
hoch in sein Büro.

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