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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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bist dageblieben. Weißt du noch, dein Wunsch,
dass Mom eine Affäre haben, ihn verlassen sollte. Aber du, du konntest ihn
natürlich nicht verlassen.
    Und das eine Mal, als du bei Lee warst, sie hat sich so sehr
gefreut, dass du gekommen warst, sie konnte gar nicht aufhören, dich abzuküssen.
Gott, es ist so schön, dass wir uns sehen. Hör schon auf, sonst denken die, wir
treiben Inzest, hast du sie ermahnt. Sie zuckte mit den Schultern und machte
die Banjoklänge von Beim Sterben ist jeder der Erste nach.
Du wirst schon bald hiersein. Die hohen Steintürme, die Häuser, fast wie
Schlösser. Mach dir wegen Dad mal keine Sorgen, sagte sie.
    Hattest erwartet, dass sie alle hochnäsig sein würden, und dann waren
sie es gar nicht. Schöne Landschaft, wo du herkommst, stimmt’s? Denk schon.
Allerdings nicht wie hier. Das fanden sie dann witzig: Du meinst, nicht wie in
New Haven? Nein, er hat doch recht. Es ist hier wunderschön, wir finden es nur
selbstverständlich. Das sagte ihr damaliger Freund, Hauptfach Physik.
    Ich werde diese Dinge jetzt begraben, dachte er. Und nie mehr an sie
denken.
    ***
    Am Morgen trat er seinen Unterschlupf zu Bruch und grub ein
Loch für seinen Kot, den er, nachdem er fertig war, mit ein paar Tritten Erde
abdeckte. Verwische deine Spuren. Hast das letzte Sandwich noch. Er ging ein
Stück, bis er die Autobahn erkennen konnte, mit dem rasenden Verkehr, und bis
die Sonne auf ihm lag. Dann aß er seinen letzten Bissen, trank den Rest des
Wassers.
    Weiter an der Autobahn entlang. Nicht die geringste Ahnung, wo du
bist. In Michigan, weit nördlich. Was würde denn Poe tun, wenn er hier wäre?
Nicht die geringste Ahnung. Pfeil und Bogen schnitzen oder so was. Brauchst du
nicht. Was wohl aus Otto dem Schweden geworden ist. Tja, schwer zu sagen.
Sinnlos. Früher oder später werd ich eine Bahnlinie kreuzen. Erst einmal brauch
ich Geld oder etwas zu essen. Such dir eine Raststätte und warte lang genug,
dann wird sich was ergeben. Bloß dass ich das gar nicht tun will. Wie du
willst. Verhunger doch. Da, eine Überführung, kannst dir einen Überblick
verschaffen.
    Von dort oben sah er weit über die Autobahn, wie flach das Land war,
all die Autos und die Trucks, die drunter durch fegten, ohrenbetäubender Lärm.
Helle Sonne, hast dir ja die Hose eingerissen. Wann wohl. Dornen und die
Stacheldrahtzäune. Sei froh, dass du nicht Wundstarrkrampf gekriegt hast. Beug
dich nicht zu weit übers Geländer. Spür die Luft, die zu dirhochdrückt. Könntest
schweben, nur eine Sekunde lang. Ein Mack -Truck und
seine kinetische Energie: halbe Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat.
Fünfunddreißigtausend Kilo mal einhundertzwanzig Stundenkilometer zum Quadrat,
also hoch zwei. Bloß dass du hier Fuß pro Sekunde brauchst. Na schön, dann
hundertfünfzehn. Das macht siebenhundertvierzehntausendeinhundertfünfzig
Kilojoule. Dein Gewicht sind fünfzig Kilo. Würde den Truck nicht verlangsamen.
Nein, würd es technisch schon. Bloß dass man es nicht sähe.
    Runter von der Brücke jetzt, sie hätte es auf jeden Fall getan, sie
war kein zäher Mensch. Nur wenn sie jemand anderen geheiratet hätte. Dann
würdest du nicht existieren. Dass du existierst, bedeutet, dass sie in einer
spezifischen Sekunde das getan haben, und das warst du dann. Dass du
existierst, bedeutet, dass sie ihn geheiratet hat. Dass du existierst,
bedeutet, dass sie das getan hat. Zwei Wochen vermisst, da war euch allen klar,
was sie entschieden hatte, keiner von euch wollte sich das eingestehen. In der
Hoffnung, dass sie die Familie verlassen hätte, um ein neues Leben zu beginnen,
dass sie eine andere Lösung wusste. Bei ihrem Begräbnis weigerte er sich, sie
zu verlassen, wollte seinen Rollstuhl nicht mehr von der Grube wegbewegen. Du
und Lee, ihr musstet ihn wegschieben. Er erzählte allen Trauergästen, allen
Freunden, allen, die ihm zuhörten, dass sie ermordet worden wäre. Bloß dass es
die Leute wussten. Wissen sie doch immer, nachdem jemand was getan hat –
rechnen zwei und zwei zusammen. Du hast ihm die Schuld gegeben und auch wieder
nicht. Er hat sich aber selbst die Schuld gegeben. Wenn du etwas sicher weißt,
dann das. Und immer hat er dich herausgefordert, immer wieder – wirst du mich jetzt auch verlassen?
    Jetzt ist er allein, er weiß, was er ihr angetan hat und dass du ihm
nicht verzeihst. Nur seine Tochter hat es bald getan, damit sie ihn verlassen
konnte. Nein, verzeihen kann ich ihm das ja, nur was mich stört, ist

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