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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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das hohe Dickicht auf den Fluss
zu, bis es schien, als könnte ihn da keiner finden. Als er sich zu Boden
kauerte, war auch kein Wind zu spüren. Immer noch raste sein Herz, im Mund war
ein Geschmack von Blut. Das hättest du verhindern können, dachte er. Nur einen
davon mitdem Messer leicht verletzt, schon wär der Rest geflüchtet. Er
beschloss, es war in Ordnung. Einmal bin ich reingefallen. Dann zog er das
Messer und legte es neben seinen Kopf. Es brauchte lange, bis sein Herz zur
Ruhe kam, damit er einschlafen konnte.

3 . Poe
    Er saß hinten drin in Harris’ Truck, sie fuhren beim
Polizeirevier vor. Er war hier nicht zum ersten Mal, es war nicht mal ein
richtiges Revier, der Bau hieß Stadthaus von Buell, denn er beherbergte noch
andere Büros, vom Bürgermeister und vom Stadtrat. Neuerdings schlief, wie die
Zeitung schrieb, der Bürgermeister im Büro, weil seine Frau ihn rausgeschmissen
hatte. Das war schon ein kleinerer Skandal gewesen, dass der Bürgermeister in
seinem Büro lebte. Das Stadthaus war aus weißem Blähbeton, drei Stockwerke mit
Flachdach, es sah eher wie eine große Werkstatt aus, nicht wie die
Schaltzentrale einer Stadt. Das Innere war gelb gestrichen und nicht alt, sah
nur so aus. Das ursprüngliche Rathaus war vor Jahren schon vernagelt worden,
mehrfach war Poe eingebrochen und darin herumgelaufen, großer roter Backsteinbau,
der aussah wie ein Schloss, mit Eisenfenstern, Holzpaneelen drinnen und
Zierleisten, wirkte wie die Villa eines reichen Mannes, wie ein Ort, den man
selbst respektieren konnte. Doch der Stadt fehlte das Geld, um ihn zu
unterhalten.
    In dem neuen Bau erblickte Poe als erstes Harris’ stämmigen chinesischen
Kollegen, der sich Fox News anguckte, es wirkte so,
als redete er mit dem Bildschirm. Harris brachte Poe nach unten in eine
Arrestzelle. Poe war schon in dem langen Korridor gewesen, große Stahltüren alle
drei Meter, die wie Brandschutztüren aussahen. Die Zelle hatte einen
Metzgerblock als Bett, ohne Matratze. Draußen flackerte die Lampe, so als
wollte sie ihm einen Schlaganfall verpassen. Es gab nur ein Fenster, das vom
Boden auf den Parkplatz rausging, doch das Plastik seiner Scheibe war ganz
milchig geworden.
    »Ich bin gleich bei dir«, sagte Harris. Wenn er nicht grad aufden Tisch schlug, hatte er ein offenes, ein lockeres Gesicht mit Augen, die
einem verziehen, so als hätte er ursprünglich etwas anderes sein sollen, Lehrer
an der Schule vielleicht. Was der Grund dafür sein konnte, dass er ständig auf
den Tisch schlagen musste, als Ausgleich für seine Erscheinung.
    »Wie lang meinst du –«, sagte Poe, doch Harris schloss bereits die
Tür ab.
    »Mach es dir gemütlich«, hörte er ihn sagen. Und er hörte weitere
Türen zuschlagen.
    Er hatte keine Jacke, und ihm war, als würde kalte Luft aus einem
Lüftungsschlitz direkt auf ihn geblasen, ganz zu schweigen davon, dass die
undichte Toilette eine große Pfütze hinterlassen hatte, auf dem Zellenboden
stand das Wasser. Und da war er nun, du glaubst, das können sie mit dir nicht
machen – dich in eine Zelle sperren –, doch sie können das. Das ist so.
Schicksal. Und genau so hatte er sich auch das erste Mal gefühlt, als sie ihn
eingesperrt hatten, dass es halt Schicksal war, im Rückblick war das aber
falsch. Genau wie jetzt. Er hatte immer eine Wahl getroffen. Wenn er es tat,
fühlte sich das zwar nie an wie eine Wahl, aber es war eine. Zu glauben, dass
es eine Großverschwörung anderer war, mochte tröstlich sein, die Wahrheit war
es nicht.
    Als er das letzte Mal hier eingesperrt saß, ging es um den Jungen
aus Donora. Groß, wenn auch nicht ganz so groß wie Poe, und abgesehen von den
Pickeln, die er überall am Hals und im Gesicht hatte, war er in Ordnung.
Zweierschüler, sagte man von ihm. Als Poe dann mit ihm fertig war, sah alles
anders aus. Er wusste noch, wie er ihn unten hielt, sie beide bluteten, es
sahen sogar Mädchen zu. Sie waren nachts auf einem Parkplatz, es war sehr still
geworden, keiner sagte etwas, alle schauten nur, es feuerte sie nicht einmal
jemand an, man hörte nur das schwere Atmen, Keuchen, Grunzen. Poe drückte den
Jungen an den Boden, wusste, dass er nicht hochkommen durfte. Bleib jetzt
unten, flüsterte er, doch er wusste, dass der Junge das nicht tunwürde, er
merkte, dass der Junge nicht verlieren konnte, dass er das nicht in sich hatte.
Das bedeutete den Absturz für sie beide. Bleib jetzt unten, sagte er dem Jungen
noch mal leise ins Ohr, aber er musste ihn

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