Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
gewesen.

4 . Harris
    Er suchte Billy Poe die schlimmste Zelle aus, beschloss, ihn
über Nacht dort drin zu lassen, damit sich der Junge überlegte, was ihm blühte.
Wenn er auf dem Metzgerblock lag. Was im Grunde ganz gut passte. Irgendetwas
Großes lief da im Büro des Staatsanwalts, es war noch unklar, was genau, doch
Harris hegte den Verdacht, was immer dabei rauskam, wäre ungünstig für Billy
Poe. Er schloss sein Zimmer ab und ging, um sich von dem Kollegen zu
verabschieden, der Nachtdienst hatte. Es war Ho.
    »Schon wieder du?«
    »Na, Miller hat sich krankgemeldet.«
    Harris nahm sich vor, mal nachzusehen, wie oft Miller krank war.
    »Du siehst aus, als solltest du das auch tun, Boss.«
    »Ich bin nur müde.«
    Ho nickte ihm zu, und Harris ging, verließ das Polizeirevier und
stieg in seinen alten Silverado. Schöner Abend, ein paar Stunden Tageslicht
noch, auch wenn er zu Hause ankam. Dafür konnte man doch dankbar sein. Als
Chief hatte man Privilegien – wie die Tagesschichten.
    Auf dem Weg südwestwärts ging die asphaltierte Straße irgendwann in
eine rissige geteerte Straße über, dann war’s Schotter und am Ende nur noch
Erde. Seine Hütte thronte oben auf dem Kamm, ein umfriedetes Terrain von
dreißig Morgen, drumherum der Forst.
    Wenn er aus seinem Truck stieg und sein Haus anschaute, machte es
ihn glücklich. Eine Holzhütte, gedrungen, Steinschornsteine, eine Sechzig-Kilometer-Aussicht.
Von seiner Terrasse aus konnte man in drei Staaten gucken. Niemand war je
zufällig dieStraße hochgekommen, nicht ein Mal in den vier Jahren, die er
schon hier lebte.
    Fell, sein großer Malamute, erwartete ihn drinnen; Harris trat beiseite,
um den Hund hinauszulassen, aber Fell blieb stehen, wartete darauf, dass er ihn
streichelte. Fell wurde langsam hüftsteif, und sein Rücken hing ein bisschen
durch, er buhlte schamlos um die Aufmerksamkeit seines Herrchens, er war hier
der Prinz. Da draußen, sagte Harris, schüttelte ihn dabei liebevoll am Nacken,
wärst du Bärenfleisch. Fell war zu groß für seine eigenen Knochen, und an
manchen Abenden saß Harris vor dem Fernseher, trank Whiskey und massierte
seinem Hund die Hüften. Noch ein abschließender Klaps auf den Kopf, und dann
sprang Fell von der Terrasse, einen Meter fünfzig ging’s da runter, raste
Vollgas in den Wald. Der ist vielleicht noch gar nicht so alt. Weiß vielleicht
nur, wie du tickst.
    Harris schenkte sich Club Soda ein und ging zurück auf die Terrasse,
lehnte sich an das Geländer, schaute in die Gegend. Nichts als Berge, Wälder –
Packhorse Mountain, Winding Ridge, Mount Davis. Das Gelände fiel vom Haus weg
steil ab, immer weiter runter bis zur Talsohle, vierhundert Meter tiefer. Guter
Ort hier. Dieses ist mein Waldo Pond. Und meine Ruhige Kugel. Walden, dachte
er. Nicht Waldo. Und er musste über sich selbst grinsen. Es gab viele andere
Spielfelder, auf denen er genauso hätte landen können, auf dem seines Bruders
etwa, der in Florida Computer programmierte, dazu eine Disney-Parzelle, vier
Kinder. Harris hatte dafür nur ein Wort: ein Drecksloch. War schon früh bei den
Computern eingestiegen, Großrechner, die alten UNIVAC s,
verdiente sechsmal mehr als Harris. Trotzdem machte er sich selber runter – lag
vielleicht in der Familie. Er war kein Bill Gates. Das waren seine eigenen
Worte: »Bud, ich bin im selben Alter wie Bill Gates.« Hey, du stehst gut da,
hatte Harris ihm gesagt. Keiner von beiden hatte je studiert, aber sein Bruder
holte sich alle zwei Jahre einen neuen Benz. Ich steh ganz gut da, antwortete
er, aber man sollte das schon eingestehen können –»Bud, ich bin im selben
Alter wie Bill Gates.« Da war sich Harris nicht so sicher. Schließlich konnte
man sich nach Belieben etwas ausdenken, es fand sich immer schnell eine
Geschichte als Rechtfertigung der eigenen Entscheidungen. Das Haus im Wald zum
Beispiel. Das dir geistige Gesundheit garantiert und ewiges Alleinsein bis ans
Ende deiner Tage. Diese Dinge sollten nicht zusammenhängen, dachte er.
    Er schaltete den Grill ein, nahm ein Steak aus seinem Kühlschrank,
doch er wusste, was zuallererst dran war. Auf seinem Anrufbeantworter warteten
zwei Nachrichten, von ihr. Er riss sich nicht um das Gespräch. Tja, dachte er.
Du hast es dir selbst ausgesucht.
    Grace ging sofort beim ersten Klingeln dran.
    Er sagte: »Hi, ich bin’s.«
    »Ich bin nervös«, sagte sie. »Können wir das Hey-wie-geht’s gleich
überspringen?«
    »Kein Problem. Ich hab grad auch ’ne

Weitere Kostenlose Bücher