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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Sein Kopf gegen jemanden wie Lee, wie Isaac, er wäre
aufgeschmissen.
    Poe schaute sich um – da draußen war’s schon dunkel. Seine Zelle war
für eine Arrestzelle ziemlich groß, so drei mal sechs Meter, aber der Boden war
triefnass. Und jetzt, wo kein Licht mehr von draußen reinkam, wirkte es noch
dunkler – diese Birne auf dem Korridor brachte nicht viel –, man würde sich die
Augen ruinieren, wenn man hier was lesen wollte. Nur, zum Lesen hatte er nichts
mit. Also die Gedanken in Bewegung halten, damit nicht die Langeweile
einsetzte, die Todesspirale. Das hatte Hiram auch erwischt – lang genug rumgesessen,
ohne was zum Drübernachdenken, und irgendwann verhakt dein Kopf sich –, aber
Fakt ist, das hier ist vorübergehend, wie dein Atem, fertig, mach dir doch
nichts anderes vor.
    Am Ende kriegte Hiram das, was er verdiente, und Poe war nicht
traurig, dass der Alte weg war. Poe war sieben, er, sein Vater und der alte
Hiram drängten sich auf einem Hochsitz, Poe war eingeschlafen, und beim
Aufwachen erblickte er einige Hirsche vor dem Hochsitz, sagte, »Guckt mal da,
ein Hirsch«, womit er sie verscheuchte, war sogar ein großer Zwölfender dabei,
und Hiram hatte dann das Tier verfehlt. Poe hörte seinen Vater später sagen,
»Du bist doch nicht sauer, oder? Er ist nur ein kleiner Junge.«Aber Hiram war stinksauer – auf den kleinen Billy, der zum
ersten Mal mit Jagen ging. Zwar kriegte Poe von Virgil ständig Schläge, aber
einmal, als Virgil nicht da war, hatte Hiram auch zugelangt. Eines war mal
klar, das war nicht Hirams oderVirgils Schuld, es lag im Blut, es war die
Schuld von irgendwem, lang vor den beiden. Gott vielleicht.
    Er ging zur Zellentür und hieb dagegen, bis die Hand ihm weh tat,
dabei wusste er die ganze Zeit, dass niemand kommen würde. Als ihm das zu
langweilig war, stellte er sich hin und sah durchs Fenster, hinter dem sich
einiges bewegte, aber was, das konnte er nicht sagen, Vogel, Truck oder
Vorbeigehender. Er ging nirgendwohin, und das war schon immer so gewesen. Mit
der Uni, die Idee allein war schon ein Witz, wenn es eins gab, was er nicht
konnte und im Leben nie gekonnt hatte, dann war es Bücherlernen. Wenn er mit
den Händen ranging, kein Problem, neue Vergaserdüsen, Wild ausweiden, solche
Sachen konnte er sehr gut, doch steck ihn mal mit Tischen, Stühlen, Büchern in
ein Zimmer, sofort ist das Hirn wie leer. Er konnte nicht erkennen, worauf’s
ankam, konnte das, was wichtig war zu wissen, nicht von dem, was unwichtig war,
unterscheiden, und er merkte sich die falschen Dinge. Das war immer so gewesen.
    Aber wenn er Ball spielte, mit anderen im Wettkampf, wenn er außerhalb
seiner selbst lebte, dann geschah etwas, mit einem Mal erreichten ihn
Informationen wie durch einen Feuerwehrschlauch, und er konnte alles aufnehmen,
dann flog er buchstäblich über den anderen, er wusste mehr über die Leute als
sie über sich, er kannte die exakte Stelle auf dem Rasen, wo ihr Fuß gleich
landen würde, und die Lücken, die sich zwischen all den Körpern öffneten und
schlossen, und den Ball, der in der Luft schwebte. Es war fast wie ein Blick
weit in die Zukunft, anders konnte er es nicht beschreiben, wie ein Film, durch
den er sich in Echtzeit fortbewegte und die anderen in Zeitlupe. Das waren die
Momente, wo er sich am meisten mochte – wenn er eigentlich gar nicht er selbst
war. Wenn ein Teil von ihm ans Ruder kam, der unbegreiflich für ihn war, den
andere nicht sehen konnten.
    Und die Wahrheit lautete so: Er war nicht zu retten. Wenn es ernst
wurde, wenn’s darum ging, Lebensentscheidungen zu treffen, stand er entweder
sofort in Flammen, oder er erstarrte.Fliegende Kugel oder Vollbremsung oder
Treibgut, weil er alles viel zu lange überdachte und von allen Seiten
überprüfte. So wie Colgate, er hatte den Eindruck, die hätten ihm nicht genug
Bedenkzeit eingeräumt, dabei sagten ihm alle, geh doch, los, geh einfach hin.
Und er erstarrte – überlegte zwei Jahre danach noch immer. Wär er bloß mal
hingegangen, dann wär nichts davon – der Junge aus Donora, der jetzt nichts
mehr auf die Reihe kriegte, und der Schwede, der jetzt tot war –, nichts davon
geschehen. Hätte er sich nur am Colgate eingeschrieben, wär es physisch gar
nicht möglich gewesen, dass irgendwas davon geschah. Das war ein Fehler, und er
hatte ihn begangen, nur dass es nicht wirklich so war. Es war unvermeidlich. Es
gab Männer, die als Helden starben, aber er gehörte nicht dazu. Das war ihm
immer klar

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