Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
hingeschmissen. Er jobbte
in Charleroi in einer Resterampe. Isaac entspannte sich.
    »Isaac English?«
    »Hallo Daryl, du bist das.«
    »Stimmt«, sagte er, »das ist ’ne Weile her jetzt, oder?« So wie
Daryl lächelte, schien er sich wirklich über die Begegnung hier zu freuen.
    »Und, wie läuft’s?«, fragte der Freund mit dem rasierten Schädel.
    »Gut«, sagte Isaac.
    »Hier, von Nietzsche«, sagte Daryl, zeigte auf das, was sie gerade
sprayten.
    Isaac nickte. Sie hatten, ordentlich in großen Druckbuchstaben, hingeschrieben: Aus der Kriegsschule des Lebens, Was mich nicht
umbringt – dann hatte er sie unterbrochen.
    »Na dann, Bruder«, sagte der Freund, nickte Isaac kurz zu.
    »Schön locker bleiben«, sagte Isaac, nahm das als Zeichen und setzte
sich wieder in Bewegung.
    »Hey«, rief Daryl, »kümmerst du dich noch um deinen Dad? Ich dachte,
scheiße, du wärst längst schon weg und würdest wissenschaftliche Experimente
machen oder so.«
    »Bin auf der Flucht«, rief Isaac zurück. »Wenn einer nach mir fragt
…«
    »Ich sag kein Sterbenswörtchen, Bruder.«
    Noch ein Winken, Isaac ging weiter. Das war an dem Tal das Gute.
Diese richtig antiautoritäre Tendenz. Wer anschwärzt, steht weit unter einem
Mörder. Sogar zwei solche Typen halten zu dem Kleinen, dachte er. Er sucht sich
Freunde unter Helden wie auch Mördern. Unter Reichen, unter Hilflosen.
    Er setzte seinen Weg fort. Dass sich Daryl mit weißen Rassisten
rumtrieb, war nicht ungewöhnlich. »Sturmfront« nannten die sich. Als die
Stahlindustrie unterging, waren sie aufgetaucht, und Pennsylvania war
mittlerweile voll von ihnen. Mehr als jeder andere Staat, hatte er irgendwo
gelesen. So viel Hügel – können die sich ungestört versammeln. Aber keiner nahm
sie wirklich ernst. Und dass sie irgendwem mal was getan hätten, noch nie
gehört. Natürlich leicht gesagt, wenn du selbst weiß bist.
    Kurz darauf kam Allenport am gegenüberliegenden Flussufer, wo die
W heeling-Pittsburgh -Stahlfabrik noch immer lief. Doch
jeder wusste, dass auch sie bald dichtmachen würde – sie fuhren nur noch eine
Schicht mit ein paar hundert Leuten. Gerade ging ein langer Zug von dem Gelände
ab, der Blechrollen abtransportierte.
    Dann folgte ein langes Waldstück, und wenige Kilometer später sah er
den Schleppkahnanleger gegenüber Fayette City mit den Molen und den
riesenhaften weißen Lagertanks, vertäut lag eine Handvoll Schleppboote mit
Schornstein, Führerhäuschen und dem stumpfnasigen Bug, am anderen Ufer lagen
leere Lastkähne vor Anker. Überall trieben die Bäume und die Büsche frisches
Grün hervor, es war ein Aufstand, es war über ihm und ringsherum und überm
Wasser, nirgends eine kahle Stelle, nur das Schotterbett der Gleise. Weißer
Fleck dort im Gebüsch. Stück Styropor? Ein Beinknochen. Entblößt, gebleicht,
von einem Streuner oder einem Zugselbstmörder. Phosphorspender. Alte Knochen
bringen frische Blüten. Regeneration. Der Kleine ist schon einmal hier gewesen.
Der Kleine hat am Bug von Wikingerschiffen gestanden, Eisbären gejagt. Gehörte
zu den toten Helden von Omaha Beach, die ihre Kameraden retten wollten. Schlägt
ihn was zu Boden, steht er wieder auf. Und lebt in Ehre – einer von den wenigen.
Die Menschen weichen voller Scham vor ihm zurück, der Kleine steht alleine da.
Und kann sowohl die Besten wie die Schlechtesten als Weggefährten akzeptieren,
ja, sogar sich selbst.
    Jetzt macht der Kleine Pause, dachte er. Der Kleine hat seit zweiundsiebzig
Stunden nicht geschlafen. In den dichten Büschen an der Flussböschung suchte
sich Isaac ein Plätzchen, streckte sich auf seinem Schlafsack aus und war
gleich weg. Es war fast dunkel, als er aufwachte und seinen Weg fortsetzte. Du
hast acht Stunden geschlafen. Wiederaufladung. Als er nach Fayette City
reinkam, war es schon stockfinster, flache, eckige Behausungen und leere Läden,
Bahngleise direkt am Fluss, im Schotter lag einFrauenkleid. Die Bahnlinie
passierte kleine weiße Häuser, manikürte Rasenflächen. Er war wieder hungrig,
schätzte, dass er etwa fünfzehn Kilometer hinter sich hatte, und steuerte die
Hauptstraße an, um etwas zu essen aufzutreiben. Nichts. Die Läden waren alle in
die Einkaufszentren außerhalb der Stadt gezogen. Prima, dachte er. Dann isst du
dreißig Tage lang halt nichts. Von heute aus ein weiter Weg. Er kehrte zu der
Bahnlinie zurück.
    Der Fluss war schwarz, die Sterne leuchteten sehr hell. Gefühlte
Ewigkeit, seit du mit jemandem gesprochen hast.

Weitere Kostenlose Bücher