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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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reichen, aber dann ließ er zehn Dollar liegen. Von den Armen für die
Armen. Er würd’s sowieso ausgeben.
    Wieder auf der Straße, merkte er, dass seine Prellungen weniger
schmerzten, so gut hatte er sich jahrelang nicht mehr gefühlt, er hätte gerne
in der Sonne jetzt ein Nickerchen gemacht. Als die Stadt hinter ihm lag, ging
er von der Straße übers Feld und auf die Gleise zu, bis er am Flussufer eine
geschützte grasige Stelle entdeckte. Es war sonnig, er zog Hemd und Schuhe aus
und saß da, nur in Hosen. Du musst in Bewegung bleiben, los. Er schüttelte den
Kopf. Ich könnte heute Abend tot sein. Freu dich an den schönen Dingen, wie sie
kommen.
    Er lag da, spürte die Sonne auf der Haut. Schlichte Genüsse, dafür
sind wir programmiert. Millionen Jahre Evolution – die Freude über einen Sonnentag.
    Du wirst geprüft, dachte er. Was wird mit dem Schweden? Kann ich
jetzt nicht drüber nachdenken, beschloss er. Erst mal komme ich nach Berkeley,
und dann werd ich sehen. Falls etwas passiert, dann hab ich wenigstens das
hingekriegt. Sie werden irgendwann herausfinden, was du getan hast. Poe wird
reden. Er ist einfach so. Er kann nicht anders. Na und, dachte er. Poe ist und
bleibt mein bester Freund.
    Er schloss die Augen, überlegte, ob Lee immer noch in Buell war.
Was, wenn sie jetzt hier vorbeikäme? Ich würde mitfahren.Ich habe alles bei
mir, was ich brauche. Und er strengte seine Willenskraft an, steig ins Auto,
Lee, fahr los. Ich treff dich an der 906 . Doch das
war natürlich lächerlich. Sie konnte ihn nicht hören.
    Er erinnerte sich, wie es war, bei ihrer Abschlussfeier neben ihr zu
sitzen. Zehn Minuten lang sprach der Direktor nur von ihr, das National-Merit -Stipendium, die perfekten Zulassungstests
für die Uni, angenommen in Cornell, Yale, Stanford, Duke. Da wart ihr alle
vier. Dieser Moment trug das Gefühl in sich, dass alles einen Sinn hatte. Du
konntest den Moment vorhersehen, wenn du genauso aufstehen würdest, als ob du
durch die Zeit hindurchschauen könntest. Glasklar war dieses Bild in deinem
Kopf – du sahst sie, und dabei sahst du dich selbst. Vergiss das nicht. Dann
war Mom tot, und Lee ging fort, du hofftest darauf, dass sie bliebe, aber klar.
Wer würde das schon tun – das neue Leben wartete –, es wurde umso wichtiger,
hier wegzukommen. Kannst du ihr nicht vorwerfen.
    Da war ein großer Falke, nein, ein Adler, kamen die jetzt schon zurück.
Die Dinge änderten sich ständig. Mal zum Guten, mal zum Schlechten. Jetzt hast
du nur eine Aufgabe, dich wachzuhalten, bis dich jemand stoppt. Das würde er.
Lee hatte es wohl leichter gehabt, doch es brachte nichts, damit zu hadern.
Denn er würde seinen eigenen Weg schon finden, würde in den nordkalifornischen
Bergen leben, die grün waren und viel höher als die Hügel hier, das waren echte
Berge. In der Nähe des Observatoriums. Observatorium im Haus und Sternegucken
jederzeit, das Haus besaß eine lange Veranda, die weit über eine Klippe ragte,
so dass es sich anfühlte, als schwebte man im Weltraum. Du wirst nicht allein
sein, so wie Lee es nicht ist. Denk daran, wie du sie in New Haven besucht hast
– da waren alle so wie du und Lee, auf ihre Weise. Es war kaum zu glauben, aber
seine Schwester hatte es geschafft, und in den meisten Dingen wusste sie weit
weniger als er, was sie vom Leben wollte. Er hatte das immer schon gewusst.
Natürlich hatte sie ihn bei den Zulassungstestsklar geschlagen, vierzig
Punkte besser. Innerhalb der statistischen Fehlertoleranz. Das war das Erste,
was sie sagte, als er ihr sein Testergebnis nannte – »Na, das ist doch
innerhalb der Fehlertoleranz.« Wie verständnisvoll von ihr. Doch da war noch
das Ding mit Poe. Das ruinierte alles. Eigentlich hätte das keine große Sache
sein müssen, er kannte jeden aus dem Tal, mit dem sie mal geschlafen hatte, es
gab noch zwei andere, das hatte ihm nichts ausgemacht, na jedenfalls nicht
viel. Das Ding mit Poe schien irgendwie auf etwas Größeres zu deuten. Warum,
das konnte er auch nicht sagen, doch er war sich sicher.
    Themenwechsel, dachte er. Spür diese Sonne. Denn in Kalifornien
scheint sie die meiste Zeit. Die Tagesdosis Ultraviolett. Heilt Wunden, tötet
Keime. Ultra heißt, man kann’s nicht sehen. Nein, das heißt sehr .
Schwachkopf. Isaac setzte sich auf, schaute sich um. Ringsum nur Gras und Bäume
und der Fluss zu seinen Füßen. Richtung Süden lag ein großer
Intermodal-Terminal, mit langen Haufen Kohle, Schlacke, anderem Schüttgut,

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