Rost
er elf war oder zwölf, war sie ganz
sicher, einmal war sie um die Hausecke gebogen, rechtzeitig, um ihn auf seinem
Fahrrad zu beobachten, er trampelte mit Vollgas bergab, immer schneller, auf
den Damm am Ufer zu. Erst glaubte sie, er hätte die Kontrolle übers Rad
verloren, aber rasch wurde ihr klar, dass er’s absichtlich machte – die
Geschwindigkeit trug ihn den Damm hoch und darüber weg, hoch in die Luft über
dem Bach, unglaublich hoch, er ließ das Fahrrad mittendrin los, und sie schloss
die Augen. Als sie wieder hinsah, stand er sicher auf der anderen Seite, nahm
zur Kenntnis, dass sein Hemd zerrissen war, er sammelte sein Fahrradauf und
bog den Lenker sorgsam gerade. Dann kam er zurück, quer durch den Bach, dieses
Mal trug er das Rad und sah höchst zufrieden mit sich aus. O bitte, Gott,
dachte sie damals. Bitte, Gott, pass auf ihn auf, auf meinen Sohn. Wogegen
Virgil Billy nicht einmal das Rad wegnehmen wollte. Der wollte von ihm geliebt
werden, sonst nichts.
Jetzt schaffte sie es, einen Rock überzuziehen, ihre Haare hochzustecken
und ein bisschen Make-up aufzulegen. Tief durchatmen, einen genauen Prüfblick,
in dem schummerigen Licht, entschied sie, sah sie wieder wie sie selbst aus.
Hatte sie im Ernst sekundenlang erwogen, mit George Steiner …? Tief durchatmen.
Noch war es nicht nötig aufzugeben. Jedenfalls nicht ihren Sohn.
***
Als Harris vorfuhr, musterte sie ihn, wie er von seinem großen
Truck heruntersprang, er war schon über fünfzig und bewegte sich wie ein viel
Jüngerer, sein Anblick hatte etwas Tröstliches.
Sie trat auf die Veranda.
»Hi«, sagte sie.
Sie hoffte, dass er hochkäme, sie küsste, doch er machte keine Anstalten
dazu. Er blieb am Fuß der Treppe stehen, mit besorgter Miene.
»Ich hatte gehofft, ich könnte dir Kummer ersparen«, sagte er, »und
deshalb hab ich Billy eingesperrt, bevor der Staatsanwalt es tat.«
»Und …«
»Keine guten Nachrichten, Grace, allerdings scheinst du es schon zu
wissen.«
»Neulich Abend kam er ziemlich schlimm verletzt nach Hause.«
Harris schüttelte den Kopf. »Der andere Kerl hat’s schlimmer abgekriegt.«
»Der Obdachlose.« Ihr war klar, dass es nichts änderte, ob er nun
obdachlos war oder nicht, und doch fühlte es sich so an, als ob.
Er nickte, schaute in die weite Ferne hinterm Trailer.
»Ich hab immer versucht, ihn zu schützen. Wie du weißt.«
»Sag denen doch, dass ich es war. Sie können mich an seiner Stelle
einsperren.«
»Grace. Arme Grace.« Er schien die Treppe raufkommen zu wollen, tat
es aber nicht.
Mit zugeschnürter Kehle und verschränkten Armen sagte sie: »Das mein
ich ernst.«
Jetzt kam er endlich hoch auf die Veranda; unsicher, wie er sie trösten
sollte, stand er da. Nach einer Weile wollte er sie in die Arme schließen, doch
sie boxte ihm gegen die Brust, mit einem Mal war sie so wütend auf ihn, seine
Unbeholfenheit, sie wusste nicht warum, aber sie war es.
»Ich habe getan, was ich nur konnte«, wiederholte er.
»Was ist mit Isaac? Er war mit Billy dort.«
»Wird nicht verdächtigt. Vorerst ist es besser, wenn der Staatsanwalt
von ihm nichts weiß. Ich fahre morgen hin und rede mit ihm.«
»Wird denn gegen Billy Anklage erhoben?«
»Noch hat keiner seinen Namen, aber bald.«
Ein seltsames Gefühl erfüllte sie, wie Ausblenden, weit fort von
ihm, ein Rückzug in ihr Inneres, als wär sie eine Fremde, die durch ihre
eigenen Augen auf die Welt schaut.
»Wie gesagt –«
»Es geht hier nicht um dich«, sagte sie ihm.
»Schon gut, Grace.«
Es war wie ein stetig ansteigender Druck, sie wusste, dass sie besser
schwiege, doch es musste raus: »Wenn du ein gutes Wort beim Richter einlegen
würdest, der ja dein Angelkumpel ist, wär das für dich denn so ein Beinbruch?«
Jetzt war er auch sauer. »Das war mehr als nur ein gutes Wort,verdammt.
Er hätte dafür sechs, acht Jahre hinter Gitter kommen können, was er mit dem
anderen Jungen angestellt hat.«
»Dieser Junge hatte ein Scheißbajonett, Bud. Von einer M 16 .«
»Dieser Junge war doch schon am Boden, Grace.«
Sie starrte ihn an, wusste immer noch nicht, ob sie wütend war oder
nur wütend wirken wollte, aber er war mit ihr fertig. Drängte sich an ihr
vorbei und ging die Treppe runter und zurück zu seinem Pick-up.
»Warte, Bud«, rief sie ihm nach. »Es tut mir leid.«
Er schüttelte den Kopf und stieg in seinen Wagen.
Sie rannte ihm nach, als er die Tür zuwarf.
»Es tut mir leid. Ich drehe hier fast durch, den ganzen Tag
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