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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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was er so gesehen hatte, war der Bodensatz nicht gut. Kein
Mensch war, zukünftig genau wie heute, interessiert an einem
Sechsundvierzigjährigen, der gut die Hälfte seines Lebens hinter Gittern
zugebracht hatte. Er würde ganz allein sein. Nutzlos für die anderen und für
sich selbst. Mal ganz zu schweigen davon, wie schnell alles heutzutage ging,
nach fünfundzwanzig Jahren würde es für ihn wie eine Zeitreise sein, so wie in
dem Film, wo sie den Höhlenmenschen auferstehen lassen. Alles sinnlos. Das galt
nur, wenn sie nicht mit der Todesstrafe kamen. Mit der Spritze. Er war
unsicher. Er durfte sich nichts vormachen – wenn er für das hier, für den Mord
an diesem Schweden, in den Knast ging, gab er sein komplettes Leben auf. Die
Worte, dachte er, die Worte klingen, wie halt Worte klingen, aber dir ist gar
nicht klar, was sie bedeuten – dein komplettes Leben aufzugeben, dafür bräuchte
es was anderes als Worte, um es zu beschreiben. Wie eine Maschine, die man an
das Hirn anschließen könnte und die einem das Gefühl vermitteln würde. Aber das
wäre zu viel. Das könnte keiner aushalten. Das konnte man nur Schritt für
Schritt, was das tatsächlich hieß, konnte man nicht begreifen.
    Ich gebe mein ganzes Leben auf, sagte er laut. Noch immer fiel ihm
bei den Worten nichts Konkretes ein, keine Beschreibung, nur ein ganz schwaches
Gefühl, er hätte sagen können, ich hätte gern ein Glas Milch.
    Und dabei war er gar nicht der gewesen, der den Schweden umgebracht
hatte. Der Schwede hatte ja auch nichts getan, nur dagestanden. Hätte Isaac den
Mexikaner umgebracht, klar, dafür würde Poe auch ein paar Jahre absitzen. Aber
der Schwede, der nur dagestanden und absolut nichts gemacht hatte. Bloß dass
das eine Lüge war. Er log sich selber an. Er log sich selber an, um zu
vermeiden, dass er ins Gefängnis ging, er wusste, hätte Isaac den Schweden
nicht getötet, hätte ihm der andere, Jesús, die Kehledurchgeschnitten. Und
er brauchte auch nicht so zu tun, als könnte er sich nicht erinnern, wie sie
hießen. Otto Carson, der verwesende Kadaver, oder Billy Poe. Weil Otto Carsons
Ende ja ein notwendiger Faktor für sein eigenes Weiterleben war. Notwendige
Bedingung, dachte er. Mit anderen Worten, es ging nicht auf Isaacs Rechnung.
Dem zu folgen schien unmöglich, war es aber gar nicht. Er begriff es besser,
als er es erklären konnte. Worte taugten nichts; es sei denn, durch Nachdenken
und durch Selbstgespräche zu rechtfertigen, dass er sich aus der Sache rauswand.
Jetzt kam es allein auf eine Wahrheit an, nämlich dass er verantwortlich war
für den Tod des Schweden. Es gab auch noch andere Wahrheiten, die ebenso wahr
waren, aber nur auf diese kam es an.
    Er hätte sich am Liebsten hingesetzt und sich die Aussicht von der
Wiese eingeprägt, er hatte all die Dinge niemals gut genug gesehen, er war
nicht wie Isaac, und jetzt wurde die Zeit knapp. Er ging in das Haus zurück und
klopfte an die Tür von Graces Schlafzimmer. Es roch nach Schlaf und Whiskey,
sie lag auf dem Bett, im Nachthemd, ihre dicken Beine leicht gespreizt und in
den Bettdecken verfangen. Er deckte sie richtig zu und strich die Decken glatt,
dann setzte er sich neben sie.
    »Komm her«, murmelte sie. Er legte sich aufs Bett und drehte ihr den
Rücken zu, und sie umarmte ihn so. Du benimmst dich wie ein kleines Kind,
dachte er. Es war ihm egal. Dann musste er wohl eingeschlafen sein, denn da war
ein beharrliches Geräusch, ein Hämmern, das er lieber ausgeblendet hätte,
schließlich drückte irgendwer die Schlafzimmertür auf. Als Billy seine Augen
öffnete, sah er Bud Harris, der ihm, übers Bett gebeugt, die Hand auf eine
Schulter legte. Er zuckte zurück vor der Berührung.
    »Komm jetzt, Kumpel«, sagte Harris. »Es ist Zeit.«
    Er merkte, wie Bud Harris seine Mutter ansah, setzte sich sofort
auf, stand auf, so dass Harris einen Schritt zurücktreten musste, was seine
Sicht auf Grace blockierte.
    »Ich hab draußen fünf Minuten lang geklopft.«
    »Ist gut«, sagte Poe. »Ich komm gleich.«
    Harris ging hinaus, knallte die Tür, und Poe setzte sich hin, zog seine
Stiefel wieder an. Es hatte keinen Sinn, sich vorzubereiten – was immer er
jetzt mitnahm, würden sie ihm sofort abnehmen. Er hätte vielleicht duschen
sollen, wahrscheinlich das letzte Mal, dass er alleine duschen konnte, aber
Lees Geruch war noch an ihm, er kannte so Geschichten, Männer hinter Gittern,
wie die Frau von einem Typen ihn besuchte und die Finger unten reinsteckte

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