Rost
brach ab – der würde weggepustet. Wirst dir
wohl den Arsch abfrieren, schlicht und einfach. Nein, kriech in das Loch. Er
tastete herum, da war ein langer Schlitz, eine Art Luke auf der Rückseite des
Waggons, aber sehr groß konnte das nicht sein da drinnen. Immerhin etwas
geschützter. Er beschloss zu warten.
Wenige Minuten später sah er Pittsburgh, Hochhäuser, ein Kraftwerk
auf der Insel, dann wurde der Zug langsamer, bog nach links ab, westwärts,
Isaac griff ans Geländer, hielt den Rucksack mit der anderen Hand, dass er
nicht abrutschte und unter die Zugräder kam. Und dann blieb auch die Stadt
zurück, die hohen Bauten, weg, die Brücken, weg, und der Fluss, weg.
Drittes Buch
1 . Grace
Harris hatte Billy morgens abgeholt, und als Grace von der
Arbeit heimkam, waren alle Lichter aus im Trailer, alles war genau so, wie sie
es zurückgelassen hatte. Nur Billy war nicht zu Hause, und er würde nicht nach
Hause kommen. Vielleicht nie mehr. Zuerst musste sie jetzt Feuer machen, falls
es nachts noch kälter wurde, doch sie konnte sich nicht dazu aufraffen. Sie
konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, vom Sessel aufzustehen. Anfangs war
sie noch sicher gewesen, dass ihm nichts passieren würde – nur die blinde
Hoffnung einer Mutter. Die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Doch
sie würde sich an diesen neuen Zustand wohl gewöhnen müssen. Hast gedacht, du
machst schon große Kompromisse, dabei war das gar nichts im Vergleich zu dem,
was kommt.
Sie hatte immer fest daran geglaubt – sie wusste nicht warum, aber
ihr ganzes Leben hatte sie geglaubt, dass eines Tages jemand kommen und sich um
sie kümmern würde, so wie sie sich immer um die anderen gekümmert hatte: ihre
Mutter, Virgil, Billy. Bislang war das nicht geschehen. Und es sah nicht danach
aus, als würde es demnächst geschehen. Offensichtlich hatte sie, aus Liebe, ein
Mal falsch entschieden, hatte weder Virgil aufgeben noch von ihm wegziehen
wollen, irgendwohin, wo ihr Sohn vielleicht ein anderer Mensch geworden wäre –
mit der Folge, dass sie Billy jetzt verloren hatte.
Alles wegen Virgil. Dass Billy so endete, dass sie andauernd falsch
entschieden hatte. Deine drei Semester an der Uni – wie lang dauerte es, bis du
andere Leute nicht mehr dran erinnern musstest? Auch das war für ihn – für
Virgil – draufgegangen, weil er nicht allein die Rechnungen bezahlen konnte.
Und dirübelnahm, dass du dich weiterbilden wolltest, ständig danach fragte,
wann sich’s endlich lohnen würde. Selbst dies frühe Zeichen hast du ignoriert.
Da war ich zweiundzwanzig, dachte sie. Mit Kleinkind, und das ganze Tal im
Keller. Es war schon ein Wunder, dass ich überhaupt was hingekriegt habe. Wenn
sie zurückblickte, dann fand sie, dass sie früher tapferer gewesen war. Noch
was, das mit der Zeit abgebröckelt war. Die Dinge, die man für sein Leben
wissen muss – die hast du erst gelernt, nachdem du dich bereits entschieden
hattest. Du hast dich, was immer dabei rauskam, von den Menschen deines Umfelds
prägen lassen. Virgil hatte sie nur untergraben, eine allmähliche Erosion, so
wie ein Fluss die Ufer untergräbt. Er hatte sie dazu gebracht, die
Weiterbildung abzubrechen und einen Job anzunehmen, den sie hasste, denn er
hatte irgendwann begriffen, dass er sich sein süßes Leben gut von seiner Frau
bezahlen lassen konnte. Angesichts ihrer Umgebung war das zwar ein kleines
Wunder, aber er war damit durchgekommen, allerdings auf Kosten seiner Frau und
jetzt auch seines Sohnes. Dazu hatte er nur täglich lügen müssen, was die
Arbeitssuche anging, und, wenn er gerade doch mal arbeitete, seine Lohnschecks
selber einlösen, statt sie nach Haus zu bringen. Sie erinnerte sich, wie sie
bei der Steuererklärung jedes Mal staunte, denn auf dem Papier verdiente Virgil
viel – es kam nur praktisch nichts davon bei der Familie an.
Ihr wurde elend, wenn sie nur dran dachte. Und die Schuld lag dick
und breit auf ihren Schultern, ließ sich nicht auf Virgil abschieben. Sie hätte
ihn durchschauen müssen. Dass ein Mensch so manipulativ sein konnte, darauf war
sie einfach nicht gekommen.
Und dann Harris. Wie oft hatte er sich angeboten, bis sie das Interesse
fast verlor, und jetzt, wo er nicht mehr interessiert war, sehnte sie sich nach
ihm. All das wollte sie nicht zugeben, aber es stimmte, war wohl ein Gesetz des
menschlichen Charakters – wenn du was nicht kriegen kannst, dann willst du es
erst recht. Virgil hatte sie über seine Gefühle stets im
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