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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Unklaren gelassen,stets einen Hauch Zweifel beigemischt, und sie hatte ihm nachlaufen müssen.
Bud Harris hatte einfach deutlich gemacht, was er fühlte.
    Wenn sie daran dachte, wurde ihr schlecht. Das hatte sie sich selbst
und Billy angetan. Tief durchatmen. Fair war das wirklich nicht. Die Arbeit
deines ganzen Lebens, dieses Kind. Dabei war sie nicht alt. Sie konnte noch mit
dreißig, fünfunddreißig Jahren rechnen. Alles hing von deinem Blickwinkel ab.
Höchste Zeit, jetzt wieder eigene Ziele zu verfolgen. Schluss damit, für andere
zu leben. Seit Billy beschlossen hatte, in Buell zu bleiben, hatte sie die
meiste freie Zeit mit Sorgen um ihn zugebracht und jahrelang vergessen, sich mal
um sich selbst zu kümmern. Das war doch der eigentliche Grund für ihren
Absturz. Andere Mütter hatten Söhne und kriegten das hin. Bei ihr lag’s
vielleicht an der Achterbahnfahrt, die ihr Billy zugemutet hatte. Rauf und
runter, wieder rauf. Jetzt runter. Aber das war keine Absicht. Billy war halt
so.
    Sie musste sich jetzt sammeln. Du kannst nicht für andere Leute leben.
Himmel, dachte sie, ich sollte gerade jetzt nicht so was denken. Aber ihr blieb
keine andere Wahl. Ihr Sohn hatte getan, was er getan hatte, da ließ sich
nichts mehr ändern. Und sie würde weiterleben müssen.
    Sie hatte Orangensaft und eine Flasche Wodka da und mixte einen
großen Screwdriver. Sie konnte sich jetzt keinen Anwalt leisten, keinen von den
guten. Höchstens, wenn sie keine Raten für das Haus mehr zahlte, doch selbst
dann würde sie ein paar Monate brauchen, um etwas anzusparen. Und bis dahin
war’s zu spät. Sie musste wohl Harris vertrauen. Und dem Pflichtverteidiger.
Sie schüttelte den Kopf. Auf jeden Fall würde sie mit den Zahlungen aufhören.
Und das Geld anlegen. Wenn es sein musste, das Haus verlieren, aber ihren Sohn
dem Pflichtverteidiger zu überlassen, war undenkbar. Wenn du das machst, kannst
du den Prozess gleich ausfallen lassen.
    Entscheide nichts, bevor du musst, dachte sie und ging auf die hintere
Veranda, Wodkaflasche und Orangensaft nahm sie gleichmit, betrachtete den
dunkler werdenden Himmel und trank noch einen Schluck. Wie lange war das her –
drei Jahre –, kam ihr vor wie gestern, dass sie mit der Leiterin des Frauenhauses,
Harriet, besprochen hatte, was man tun musste, um eine Stelle als
Sozialarbeiterin zu kriegen. Oder als Beraterin, sie wusste es nicht mehr. Sie
hatten sich zusammen hingesetzt und alles aufgeschrieben. Ausbildung, darauf
lief es hinaus. Wie eine Hürde war das, die man nehmen musste. »Es ist
einfach«, sagte Harriet zu ihr, »du kriegst zwei Buchstaben an deinen Namen
drangehängt. B.A., M.A., was immer. Bis dahin scharrst du im Dreck herum. Vor
allem bei dem Master-Abschluss.« Harriet hatte die Miene auf Graces Gesicht
gesehen, denn sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Hey, wir werden alt,
ob wir das alles machen oder nicht. So oder so, wir werden alt«.
    Zeit für den nächsten Drink. Jetzt war es dunkel, und die Sterne
kamen einer nach dem anderen zum Vorschein. Wie sich Virgil zu ihr umgedreht
hatte, es war in Billys Abschlussjahr bei einem Footballspiel gewesen, sie
erinnerte sich daran, Billy hatte gerade für die Eagles gepunktet. »Das haben
wir doch gut gemacht, wie wir den Jungen großgezogen haben, oder?« Virgil sagte
das. Da gingen ihr die Augen auf – beim Großziehen von Billy hatte es kein wir
gegeben. Vom ersten Tag an hatte sie die Last allein getragen, und bis zu dem
Augenblick im Footballstadion hatte sie angenommen, dass das klar war, auch für
Virgil – wenn du deinem Jungen eine Stunde in der Woche einen Football
zuwirfst, zählt das nicht als Großziehen. Ab diesem Augenblick auf der Tribüne
jedenfalls hatte sie angefangen, sich von Virgil zu entlieben, auch wenn’s noch
drei Jahre dauerte, bis alles so weit war. Dass Billy seinen Vater heute
hasste, gab ihr eine Art Genugtuung. Wie klein du manchmal sein kannst, dachte
sie.
    Wo wärst du jetzt, hättest du damals ja gesagt zu Harris’ Angebot?
Seit sechs Jahren Beamtenstelle, garantierte Rente, Krankenversicherung. Billy
wäre in der Großstadt aufgewachsen, weit von hier. Nein, dachte sie, das
konntest du nicht. Nichtso auf dem Silbertablett überreicht, das konntest
du nicht annehmen.
    Du hast dir viel zu viele Hoffnungen gemacht. Nicht für dich selbst,
sondern für Billy. Hast gedacht, er könnte etwas sein, was er nicht ist. Das
war natürlich immer so gewesen, dass die Liebe dir den Blick verstellt

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