Rot und Schwarz
einzigen Gedanken: »Liebt sie mich?«
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Elftes Kapitel
Die Macht eines Jungen Mädchens
Ich bewundere ihre Schönheit, aber ich fürchte ihren Geist.
Mérimée 37
W enn Julian, statt von Mathildens Schönheit zu schwärmen und sich über ihren Hochmut zu ereifern, der in ihrer Rasse wurzelte und den sie um seinetwillen vergaß, seine Zeit dazu verwendet hätte, die Vorgänge im Salon zu beobachten, so hätte er erkannt, wodurch sie ihre Umgebung so beherrschte. Wenn jemand dem Fräulein von La Mole mißfiel, so verstand sie den Betreffenden durch ein genau abgemessenes, feingewähltes, den guten Ton wahrendes und im rechten Moment abgeschnelltes Witzwort derart zu treffen, daß die geschlagene Wunde größer und tiefer wurde, je mehr man darüber nachdachte. So war Mathilde nach und nach der Schrecken eitler Leute geworden. Da ihr vieles, was die übrige Familie hoch und heilig hielt, durchaus gleichgültig war, so erschien sie den Ihrigen immer kalt. Aristokratische Salons gewähren einem die Freude, hinterher von ihnen sprechen zu können. Aber das ist auch alles. Urbanität an sich ist dem, der sie nicht von Jugend auf kennt, nur in den ersten Tagen etwas Besonderes. Auch Julian machte diese Erfahrung. Nachdem sein erstes Entzücken, seine erste Verwunderung vorüber war, sagte er sich: »Urbanität ist nichts als die überlegene Unfähigkeit, sich über die schlechten Manieren andrer zu ärgern.« Mathilde langweilte sich oft: vielleicht hätte sie sich überall gelangweilt. So war es eine Zerstreuung für sie und ein wahres Vergnügen, sich epigrammatisch zu äußern.
Vielleicht hatte sie dem Marquis von Croisenois, dem Grafen Caylus und zwei, drei andern hochadligen jungen Herren nur Hoffnungen gemacht, um ein paar ergötzlichere Opfer zu haben als bloß immer ihre großen Eltern, den Akademiker und die sechs oder sieben untergeordneten Persönlichkeiten, die ihr den Hof machten. Sie waren ihr allesamt nichts als neue Zielscheiben für spöttische Bemerkungen.
Gegen die Sitte ihrer Zeit pflegte sie von ihren Verehrern Briefe zu empfangen und bisweilen zu beantworten. Den im adligen Kloster des
Sacré-cœur
erzogenen jungen Damen konnte man sonst im allgemeinen Mangel an Vorsicht nicht vorwerfen. Eines Tages gab der Marquis von Croisenois ihr einen die Absenderin reichlich bloßstellenden Brief zurück, den sie ihm tags zuvor geschrieben hatte. Durch diese diplomatische Maßregel wähnte er seine Sache erheblich gefördert zu haben. Aber Mathilde liebte in ihrem Briefwechsel gerade die Unvorsichtigkeit. Es machte ihr Vergnügen, mit dem Schicksal zu spielen. Sechs Wochen lang gönnte sie dem Marquis kein Wort.
Die Briefe der jungen Herren ihres Kreises belustigten sie. Es kam ihr vor, als glichen sie sich wie ein Ei dem andern; alle waren sie voll Leidenschaftsbeteuerungen und tiefer Melancholie.
»Immer und immer der tadellose Mann, stets bereit, wie weiland die Troubadoure, nach Palästina zu pilgern«, sagte sie zu ihrer Cousine. »Kennst du etwas Abgeschmackteres? So sehen die Briefe aus, die ich mein ganzes Leben hindurch erhalten soll! Alle zwanzig Jahre ändert sich ihr Stil, je nach der Art der Beschäftigung, die gerade Mode ist. Zur Zeit des Kaiserreichs war er notgedrungen weniger aufgeschminkt. Damals hatten alle jungen Leute der guten Gesellschaft wirklich große Taten gesehen oder selbst verrichtet. Mein Onkel, der Herzog von N***, zum Beispiel hat bei Wagram mitgefochten.«
»Sich in die Front zu stellen, dazu gehört kein Geist«, warf die Cousine, Fräulein von Saint-Hérédité, ein. »Und wer dergleichen mitgemacht hat, erzählt zu oft davon.«
»Ja, aber diese Geschichten machen mir Vergnügen. In einer wirklichen Schlacht zu sein, einer napoleonischen Schlacht, in der zehntausend auf der Wahlstatt bleiben, das beweist Mut. Sich der Gefahr aussetzen, trägt die Seele empor und reißt sie aus der langweiligen Alltäglichkeit, in die meine armen Verehrer sichtlich samt und sonders versunken sind. Langeweile ist ansteckend. Wer von ihnen kommt auf die Idee, etwas Außerordentliches vollbringen zu wollen. Sie bemühen sich um meine Hand. Eine schöne Heldentat! Ich bin reich, und mein Vater wird seinen Schwiegersohn vorwärtsbringen. Ach, wenn er doch nur einen ausfindig machte, der ein klein wenig amüsant wäre!«
Mathildens lebhafte, knappe und anschauliche Art zu reden nahm keine Rücksicht auf Anmut. Es geschah oft, daß einer ihrer Ausdrücke ihren so korrekten Freunden
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