Rot und Schwarz
Stellen aus Rousseaus Neuer Heloise her.
Ohne viel auf seine Worte zu hören, sagte ihm Mathilde: »Du bist ein wahrer Mann! Ich wollte deinen Mut auf die Probe stellen. Ich gestehe es ein. Bei solchem Argwohn ist deine Tat noch unerschrockener, als ich glaubte.«
Es fiel ihr nicht leicht, ihn du zu nennen. Dies ihr ungewohnte Du beschäftigte ihre Gedanken mehr als der Sinn dessen, was sie sagte. Da dieses Du alles andre als zärtlich klang, machte es Julian keineswegs Freude. Verwundert, daß er sich nicht glücklich fühlte, und willens, es zu sein, nahm er seine Zuflucht zur Überlegung. Zweifellos durfte er sich von dieser so stolzen jungen Dame, die nie etwas ohne Einschränkung zu loben pflegte, hochgeschätzt sehen. Indem er sich dies klarmachte, empfand er das Glück der Eigenliebe. Das war freilich nicht jene überirdische Wollust, die er bisweilen bei Frau von Rênal empfunden hatte. In den Gefühlen seines jungen Sieges lebte und webte keine Zärtlichkeit. Sein Ehrgeiz war im höchsten Grade befriedigt, und ehrgeizig war Julian vor allem. Von neuem sprach er von seinem Verdacht und seinen Maßregeln, und während er redete, sann er nach, auf welche Weise er seinen Sieg ausnutzen könnte.
Mathilde war noch arg verlegen und noch ganz im Banne des eben Geschehenen. Sichtlich erfreut ging sie auf sein Gespräch ein. Und so erörterten sie, wie und auf welche Weise sie sich wiedersehen könnten. Voll Wonne ließ Julian abermals seine geistige Überlegenheit und seinen hohen Mut aus seinen Worten leuchten. Die Liebenden hatten sich vor scharfsichtigen Leuten zu hüten. Der kleine Tanbeau war sicherlich ein Verräter. Aber Mathilde und Julian waren auch nicht einfältig. Das einfachste war schließlich, sich in der Bibliothek zu treffen und dort alles Weitere zu verabreden.
»Ich kann mich in allen Räumen des Hauses blicken lassen, ohne Verdacht zu erregen«, sagte Julian, »ich glaube sogar im Schlafzimmer deiner Mutter.« Um in Mathildens Schlafgemach, zu gelangen, mußte man nämlich durch das der Marquise. »Aber wenn du es lieber hast, daß ich auf der Leiter komme, so unterziehe ich mich frohgemut dieser kleinen Gefahr.«
Wie ihn Mathilde dies sagen hörte, ward sie durch den triumphierenden Ton unangenehm berührt.
»Ist er denn mein Gebieter?« fragte sie sich. Alsbald war sie eine Beute der Reue. In voller Vernunft schauderte sie vor der unglaublichen Torheit, die sie begangen hatte. Am liebsten hätte sie in diesem Augenblick sich und Julian vernichtet. Als sie ihre Gewissensbisse mit aller Gewalt wieder bezwungen hatte, fühlte sie sich tiefunglücklich, aus Scheu und schmerzlicher Scham.
»Reden muß ich aber doch mit ihm«, sagte sie sich schließlich. »Es gehört sich, daß man mit seinem Geliebten plaudert.«
Nunmehr beichtete sie ihm aus Pflichtgefühl und unter Zärtlichkeiten, die allerdings mehr in den Worten als im Klange ihrer Stimme lagen, die schwankende Stimmung, in der sie in den letzten Tagen gelebt hatte.
Es sei ihr fester Entschluß gewesen, sich ihm ganz zu eigen zu geben, falls er den Mut hätte, auf der Leiter zu ihr zu kommen. Sie gestand ihm dies; aber nie sind vertraute Liebesdinge so kühl und höflich gesagt worden. Immer noch wehte um das Stelldichein Gletscherkälte, in der eher Haß als Liebe gedieh. In dieser Luft mußte die Moral über die jugendliche Unbesonnenheit siegen. Und das sollte der Lohn für eine geopferte Zukunft sein?
Mathilde kämpfte einen langen Kampf mit sich. Der Haß klopfte an die Pforte ihres Herzens. So sehr wehrt sich die Gefühlswelt eines Weibes gegen den eigenen festen Willen. Aber am Ende wurde sie Julians freudige Geliebte.
Und doch war ihre Hingabe immer noch ein wenig gewollt. Ihre Liebesleidenschaft war eine Nachahmung eines phantastischen Vorbildes, keine ganz echte Wirklichkeit. Mathilde glaubte, sich selbst wie ihrem Geliebten gegenüber eine Pflicht erfüllen zu müssen. »Der arme Junge«, sagte sie sich, »hat sich tadellos tapfer gezeigt. Er muß beglückt werden, oder ich habe wenig Charakter!« Trotzdem wäre sie bereit gewesen, sich gegen ewiges Leid aus ihrer Zwangslage loszukaufen.
So gräßliche Gewalt sie sich auch antat: sie blieb Herrin ihrer Worte. Kein Ausdruck der Reue und kein Vorwurf trübte die Nacht, die Julian eher seltsam denn glücklich dünkte. »Wie anders waren die letzten vierundzwanzig Stunden in Verrières!« dachte er. »In so vollendeter Kultur erstirbt also auch die Liebe ...«, wähnte er in
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