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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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seiner grenzenlosen Ungerechtigkeit zu erkennen.
    Solchen Betrachtungen überließ er sich, als er in einem der beiden großen Mahagonischränke stak, wo er sich am Morgen verbergen mußte. Mathilde ging mit ihrer Mutter zur Messe.
    Sobald die Kammerjungfer das Zimmer auf eine Weile verließ, gelang es Julian ohne Schwierigkeit hinauszuschlüpfen.
    Er ließ sich ein Pferd geben und ritt in die einsamsten Waldwinkel, die es um Paris gibt. Er war mehr erstaunt als glücklich. Wenn er es minutenlang war, so war das Glück, das seine Seele durchzog, ähnlich dem Glücke eines jungen Leutnants, der zum Lohne für eine besondere Heldentat mit einem Sprung zum Obersten befördert worden ist. Er kam sich wie auf schwindelnder Höhe vor. Alles, was gestern noch hoch über ihm gestanden hatte, war mit einem Male seinesgleichen oder gar unter ihm.
    Je weiter er ritt, um so mehr wuchs langsam sein Glück.
    Daß Mathildens Seele aller Zärtlichkeit ledig geblieben war, lag daran, daß sie unter der Zwangsvorstellung litt, Julian gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Was auch in dieser Nacht geschehen war, ihr hatte sie nichts Unvorhergesehenes gebracht, mit Ausnahme des Leids und der Scham, die sie statt der in den Romanen so viel gepriesenen Glückseligkeit gefunden hatte.
    »Sollte ich mich getäuscht haben?« fragte sie sich. »Am Ende liebe ich Julian gar nicht?«

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Siebzehntes Kapitel
Ein altes Schwert
I now mean to be serious; - it is time,
Since laughter now-a-days is deem'd too serious
A jest at vice by virtue's called a crime.
    Byron, Don Juan, XIII
    Z um Mittagessen erschien Mathilde nicht. Abends kam sie einen Augenblick in den Salon, hatte aber keine Augen für Julian. Das dünkte ihn sonderbar; doch sagte er sich: »Ich kenne ihre Gewohnheiten nicht. Sie wird mir ihr Verhalten gelegentlich erklären.« Immerhin war er äußerst neugierig und musterte ihre Mienen mit prüfenden Blicken. Sie sah unverkennbar hart und bös aus. Sichtlich war sie nicht mehr das Weib, das in der vergangenen Nacht die seligsten Wonnen empfunden oder zu empfinden geheuchelt hatte. Ihre Ekstase kam ihm hinterher als zu ungeheuer vor, um wahr zu sein.
    Am nächsten und am übernächsten Tage sah er sich der nämlichen Kälte gegenüber. Sie blickte ihn keinmal an und nahm von seiner Anwesenheit keine Notiz. Julian wurde von brennender Ungewißheit verzehrt. Das Siegergefühl, das ihn am ersten Tage beseelt hatte, verflog gründlich. »Sollte sie zur Tugend zurückgekehrt sein?« fragte er sich. »Nein, die stolze Mathilde ist keine Spießbürgerin! Im Grunde ist sie nicht fromm. Sie sieht in der Kirche eine nützliche Einrichtung zur Erhaltung des Adels. Aber könnte sie die begangene Sünde nicht einfach aus Schamgefühl bereuen?« Julian war überzeugt, ihr erster Liebhaber zu sein.
    Dann wiederum sagte er sich: »Es ist nicht im geringsten Naives, Schlichtes, Zärtliches in ihrem Benehmen. Sie ist hochmütiger denn je. Verachtet sie mich? Es sollte mich nicht wundern, wenn sie voll Reue wäre, nur weil ich ein Plebejer bin.«
    Er verlor sich in literarische Reminiszenzen und in Erinnerungen an Verrières. Während er der Vision einer zärtlichen Geliebten nachhing, die von der Stunde an, da sie den Erkorenen beglückt hat, ihre eigene Existenz vergißt, grollte ihm Mathilde aus Eigenliebe.
    Da sie sich seit acht Wochen kaum mehr langweilte, hatte sie auch keine Furcht mehr vor der Langenweile. Dadurch hatte Julian völlig ahnungslos seinen größten Vorteil verloren.
    »Ich habe einen Herrn über mich gesetzt!« sagte sie sich in düsterster Melancholie. »Er ist zwar voll Ehrgefühl, – gut! – aber wenn ich seine Eitelkeit aufs äußerste reize, wird er aus Rache die Art unseres Verhältnisses ausplaudern ...«
    Sie hatte noch nie einen Geliebten gehabt. Aber gerade an dem Punkte des Lebens, wo selbst die dürrsten Seelen holde Illusionen hegen, war sie den qualvollsten Gedanken preisgegeben.
    »Er hat Riesengewalt über mich, weil er mich durch Schreck und Angst regiert und mich furchtbar strafen kann, wenn ich ihn tödlich verletze.«
    Der Gedanke reizte sie; sofort nahm sie sich vor, ihm Schimpf anzutun. Der Grundzug ihres Charakters war Tollkühnheit. Mit ihrer Existenz wagehalsig zu spielen machte sie rege und vertrieb ihr die Langeweile, die sie manchmal wieder verspürte.
    Als sich Julian auch am dritten Tage keines Blickes von ihr gewürdigt sah, folgte er ihr nach der Mittagstafel in das Billardzimmer, obgleich er wohl

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