Rot wie das Meer
schlafen.
Eine Weile liegen wir einfach so im Dunkeln und lauschen auf den Regen, der aufs Dach prasselt. Ich denke an den kaputten Zaun zu Hause, das letzte Geräusch, das ich von Puffin gehört habe, und das lange, lange schwarze Gesicht, das in den Unterstand gelugt hat.
Ich bin furchtbar müde und nur darum sage ich, was ich denke, ohne es aus Taktgefühl ein bisschen bekömmlicher zu formulieren.
»Warum bist du uns holen gekommen?« Obwohl ich flüstere, klingt meine Stimme laut in dem kleinen Zimmer.
Gabes Antwort von der anderen Seite des Bettes aus klingt sarkastisch. »Ehrlich, Puck, was glaubst du denn?«
»Was kümmert es dich noch?«
Jetzt wirkt er gekränkt. »Was ist das denn für eine Frage?«
»Warum beantwortest du alle meine Fragen mit Gegenfragen?«
Gabe bewegt sich, um ein Stück von mir abzurücken, aber es ist kein Platz mehr auf der Matratze. Das Bett ächzt und quietscht wie ein Schiff auf hoher See, nur dass die See der nackte Dielenboden in Beechs nach Schinken riechendem Zimmer ist. »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.«
Ich will nicht wieder gesagt bekommen, ich sei hysterisch, also wäge ich meine Worte ab, sorgfältig und genau, bevor ich sie ausspreche. »Ich will wissen, warum du dich auf einmal für uns interessierst, wo du doch nächstes Jahr sowieso nicht mehr da bist, und wenn wir dann im Oktober beide gefressen würden, würdest du es auf dem Festland noch nicht mal mitbekommen.«
Gabe stößt in der Dunkelheit einen tiefen Seufzer aus. »Ich will euch doch auch gar nicht hier zurücklassen.«
Ich hasse mich für das winzige hoffnungsvolle Flattern, das sich bei seinen Worten in meiner Brust regt. Aber ich kann nicht verhindern, dass sich in meinem Kopf ein Bild von ihm formt, wie er mit weit ausgebreiteten Armen vor mir steht und verkündet, dass er seine Meinung geändert hat, bevor er Finn und Dove und mich alle auf einmal umarmt. »Dann tu's nicht. Bleib einfach hier«, erwidere ich.
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich kann einfach nicht.«
Diese paar Worte sind schon mehr, als wir die ganze Woche über miteinander gesprochen haben, und ich überlege, ob ich es nicht einfach dabei bewenden lassen soll. Ich sehe ihn schon die Bettdecke von sich schleudern und aus dem Zimmer stürmen, um weiteren Fragen auszuweichen. Aber wenn er mir entkommen wollte, müsste er erst mal über Tommy Falk und Beech Gratton auf ihren Matratzen auf dem Wohnzimmerboden steigen, versuchen, nicht vor die Couch mit Finn darauf zu laufen, und sich anschließend allein in die dunkle Küche setzen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er das tun wird.
Also sage ich: »Das ist kein Grund.«
Es dauert lange, bis Gabe etwas erwidert, und ich höre ihn bloß atmen, ein und aus, ein und aus. Dann sagt er mit fremder, dünner Stimme: »Ich ertrage es einfach nicht mehr.«
Ich bin ihm so lächerlich dankbar für seine Ehrlichkeit, dass ich erst einmal gar nicht weiß, was ich von seiner Antwort halten soll. Ich durchforste mein Gehirn nach einer guten Frage, einer Frage, die ihn am Reden hält. Es ist, als wäre die Wahrheit ein Vogel, den ich nicht verscheuchen will. »Was erträgst du nicht mehr?«
»Diese Insel«, sagt Gabe. Er atmet nach jedem Wort tief ein. »Dieses Haus mit Finn und dir drin. Den Tratsch. Den Fisch – diesen gottverdammten Fischgestank, den werde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr los. Die Pferde. Alles. Ich kann einfach nicht mehr.«
Er klingt verzweifelt, aber eben noch hat er nicht im Geringsten so gewirkt, als wir alle zusammen in der Küche waren und danach über das Wohnzimmer verteilt beim Essen saßen. Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll. Alles, was er aufgezählt hat, sind Dinge, die ich an dieser Insel liebe, außer vielleicht der Fischgestank, der einem möglicherweise tatsächlich alles andere verderben kann. Aber ich weiß nicht, ob das Grund genug ist, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen.
Es ist, als habe er mir soeben gestanden, dass er langsam an einer Krankheit stirbt, von der ich noch nie gehört habe und deren Symptome ich nicht an ihm erkennen kann. Sein absolut widersprüchliches Verhalten, das in meinem Kopf einfach keinen Sinn ergibt, lässt mir keine Ruhe, so als hätte ich gerade zum ersten Mal von all dem gehört.
Das Einzige, was ich voll und ganz begreife, ist, dass dieses Etwas, dieses fremdartige, namenlose, unsichtbare Etwas, so groß und so mächtig ist, dass es meinen Bruder
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