Rot wie das Meer
Bruder, denn dieser sieht nun ein bisschen aus wie Tommy – eilt über den Sand zu Sean hinüber. Das Licht schwindet immer schneller, darum kann ich nicht erkennen, worin er die Asche transportiert – sie muss frisch aus dem Feuer genommen worden sein. Sean hält eine Hand über das Behältnis, als wolle er die Temperatur testen, und greift dann vorsichtig hinein. Die Stute reißt den Kopf hoch und stößt wieder einen Schrei aus, als Sean eine Handvoll Asche über ihr in die Luft schleudert. Der Wind zerreißt Seans Stimme über dem Sand, beraubt sie jeglicher Kraft, aber Norman Falk spricht seine Worte mit: »Möge die See sich unserer Helden annehmen.«
Sean wendet uns den Rücken zu und nimmt der Stute das Halfter ab. Sie keilt mit den Hinterhufen aus, doch er tritt völlig gelassen zur Seite. Mit wehender Mähne macht sie schließlich einen gewaltigen Satz ins Wasser. Einen Moment lang kämpft sie noch mit den Wellen und dann schwimmt sie. Nichts als ein wildes schwarzes Pferd in einem blauen Meer voll mit der Asche anderer toter Jungen.
Dann, so flink und unvermittelt, dass ich den Moment, in dem sie abtaucht, verpasse, ist sie verschwunden und zurück bleibt nur der wogende Ozean.
Sean steht noch immer am Wasser und blickt aufs Meer hinaus und ich sehe etwas wie Neugier oder Sehnsucht in seinem Gesicht, als
würde er selbst gern ins Meer springen und davonschwimmen. Und in diesem Augenblick glaube ich zu verstehen, warum Norman Falk Sean für diese Aufgabe ausgewählt hat. Nicht weil er der Einzige ist, der dieses Ritual durchführen kann. Sondern weil Sean Kendrick, so wie er in diesem Moment dasteht, das Rennen ist, selbst wenn es nie eins geben würde. Weil er die Besinnung auf das verkörpert, was die Pferde für diese Insel bedeuten – eine Brücke zwischen dem, was wir sind, und einem Teil von Thisby, nach dem wir uns alle sehnen, aber den wir niemals erreichen können. Als ich Sean dort stehen sehe, das Gesicht dem Meer zugewandt, wirkt er kein bisschen zahmer als ein Capaill Uisce und ich spüre, wie Unruhe in mir aufsteigt.
Mein Herz wird schwer, als ich an all die Anfänge und Abschiede denke. Morgen ist der Tag des Rennens, mit all seinen Strategien und Gefahren, Hoffnungen und Ängsten, und gleichzeitig ist es der Tag, an dem Gabe in ein Boot steigen und uns verlassen wird. Ich fühle mich wie Sean, der auf den Ozean hinausblickt. Erfüllt von einer namenlosen Sehnsucht, die ich nicht ertragen kann.
56
Sean> Nachdem ich Tommy Falks Stute freigelassen habe, geselle ich mich zu der Trauergemeinde. Im Schein des Feuers bleiben die Gesichter der Leute ein Geheimnis, bis man direkt vor ihnen steht. Ich suche eins nach dem anderen ab; ich sehe Gabriel Connolly und Finn Connolly, aber nicht Puck.
Ich frage Finn, der starr wie eine Vogelscheuche dasteht, ob Puck mit ihnen gekommen ist, und er sagt: »Natürlich«, aber mehr nicht. Ich wandere durch die Gruppe, berühre Ellbogen und frage nach ihr und habe die ganze Zeit das Gefühl, dass ich meine Gefühle für sie genauso gut hinausschreien könnte. Niemand hat sie gesehen.
Morgen ist der Tag des Rennens und ich habe meinen Beitrag zu Tommy Falks Beerdigung geleistet und sollte jetzt zurück zum Hof gehen, aber ich fühle mich hohl, denn ich weiß, dass Puck irgendwo hier ist und ich sie nicht finde. Ich muss sie finden und dieser Drang beunruhigt mich.
Lange Zeit stehe ich auf den Felsen und überlege, wo sie sein könnte, dann steige ich wieder den Klippenpfad hinauf. Das Land liegt im Dunkeln, aber hier oben, so nah am Himmel, leuchtet der Abend noch in tiefem Rot. Überall sonst auf Thisby muss es längst Nacht sein, hier aber hängt, weit im Westen, noch immer ein Hauch Abendsonne über dem Meer. Auf der Spitze der Klippe finde ich sie, das Gesicht dem Horizont zugewandt. Sie hat ihre Arme um die angezogenen Knie geschlungen und sieht aus, als sei sie direkt aus den Felsen und der Erde unter ihr emporgewachsen. Sie muss meine Schritte hören, aber ihre Augen suchen weiter das Meer ab.
Ich ziehe mich zu ihr hoch und betrachte ihr Profil; hier, wo nur Puck mich sieht, gebe ich mir keine Mühe, mein Interesse zu verbergen. Die Abendsonne liebkost ihren Hals und ihre Wangenknochen. Ihr Haar hat die Farbe von Klippengras und weht ihr in der Brise ins Gesicht. Ihre Miene wirkt nicht so entschlossen wie gewöhnlich, weniger kontrolliert.
Ich frage: »Hast du Angst?«
Ihre Augen liegen auf dem Streifen Horizont weit im Westen, wo die
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