Rot wie das Meer
Raum.
»Tja, dann tut's mir leid. Mehr hab ich nicht.« Gabe schließt die Tür hinter sich. Verbissen schlucke ich meine Tränen hinunter. Sie bleiben mir trotzdem in der Kehle stecken.
Nun liegt es an mir. Ich habe keine Wahl.
Ich bleibe noch eine ganze Weile in dem Toilettenraum, die Stirn an den Türrahmen gelehnt. Ich kann jetzt nicht da rausgehen, weil Tommy Falk mich dann angrinst und irgendeinen dummen Witz macht und ich in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbreche, und dazu werde ich es auf keinen Fall kommen lassen. Ich weiß, dass Brian Carroll wahrscheinlich immer noch vorne im Pub auf mich wartet, und das tut mir leid, aber nicht so leid, dass ich zu ihm gegangen wäre.
Nach einer Weile hole ich tief Luft. Ich glaube, ich habe gedacht, dass ich Gabe schon irgendwie dazu überreden könnte, bei uns zu bleiben. Dass er seine Meinung ändern würde. Jetzt aber habe ich die Gewissheit. Es ist, als stehe er schon mit einem Bein auf dem Schiff.
Ich schlüpfe aus der Toilette und sehe, dass es ein paar Meter weiter einen Hinterausgang gibt. Einen Moment lang ringe ich mit zwei Möglichkeiten: zum Vordereingang gehen, an Gabe und Tommy Falk und den starrenden Männern vorbei, wo Brian Carroll vielleicht immer noch auf mich wartet. Oder durch die Hintertür auf die Straße verschwinden, wo ich meine Wunden lecken und die Zeit bis zur Parade totschlagen kann. Am liebsten aber will ich einfach nur nach Hause, in mein Bett kriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen, bis es Dezember ist. Oder März.
Ich schäme mich in Grund und Boden dafür, aber ich nehme die Hintertür und lasse Brian Carroll zurück.
Der Wind fegt durch die enge, von Steinmauern begrenzte Gasse hinter dem Pub, und als ich mich auf den Weg zurück zur Straße mache, denke ich missmutig an heiße Schokolade und zu Hause, das sich jedoch nicht mehr wie zu Hause anfühlt. Auf der Straße hat sich in der Zwischenzeit ein noch größeres Menschenmeer angesammelt und ich kann einfach nicht den Willen aufbringen, mich jetzt in diese Fluten zu stürzen.
Dann höre ich »Puck!« und es ist Finns Stimme.
Er packt mich beim Ellbogen, schwankend, und einen kurzen, verwirrenden Augenblick lang denke ich: Finn ist betrunken, denn im Moment traue ich meinen Brüdern alles zu, dann aber wird mir klar, dass ihn bloß jemand in dem Gedränge hinter ihm angerempelt hat. Finn tastet nach meiner Hand, biegt meine Finger auseinander und
legt einen Novemberkuchen hinein. Das Gebäck trieft nur so vor Honig und Butter und ein Rinnsal der cremigen Glasur gesellt sich zu der Honiglache in meiner Handfläche. Beides schreit geradezu danach, aufgeleckt zu werden. Irgendjemand in der Nähe heult wie ein Wasserpferd. Mein Herz pocht wie das eines Kaninchens.
Ich lasse den Kuchen weitertriefen und sehe Finn in die Augen. Er ist ein Fremder, ein schwarzer Dämon mit einem geisterhaft weißen Grinsen im Gesicht. Ich brauche einen Moment, um ihn unter den Streifen aus Kohle und Kreide auf seinen Wangen wirklich zu erkennen. Nur seine Lippen sind rosa, wo sein eigener Novemberkuchen die Farbe abgerieben hat. An einem Lederriemen auf dem Rücken trägt er eine Speerattrappe aus Treibholz.
»Wo hast du das denn alles her?« Ich muss schreien, damit er mich über den Lärm der Menge hinweg hört.
Finn greift nach meiner anderen Hand und legt etwas hinein. Als ich die Faust öffne, um zu sehen, was es ist, schiebt er meine Hand dichter an meinen Körper, um sie vor fremden Blicken zu schützen. Ich blinzele auf das Bündel Geldscheine in meiner Hand.
Finn beugt sich zu mir herüber. Sein Atem ist so süß wie Nektar; er hat schon mehr als einen Kuchen gegessen. »Ich hab den Morris verkauft.«
Schnell verberge ich das Geld an meiner Brust. »Wer hat dir denn so viel dafür gegeben?«
»Irgendeine dämliche Touristin, die ihn entzückend fand.«
Er lächelt mir zu, seine Zähne schief und weiß in seinem kohleschwarzen Gesicht, die Haare wild zerstrubbelt, und ich spüre, wie sich meine Gesichtszüge zu einem Lächeln entspannen. »Wahrscheinlich fand sie eher dich entzückend.«
Finns Lächeln verschwindet. Eine der Regeln, um mit Finn auszukommen, besteht darin, niemals eine Anspielung darauf zu machen, dass Finn eventuell für das andere Geschlecht attraktiv sein könnte. Ich bin nicht ganz sicher, was für eine tiefere Gesinnung dahintersteckt, aber wahrscheinlich ist sie mit der verwandt, die es einem verbietet, sich jemals bei ihm zu bedanken. Aus
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