Rot wie das Meer
von der Klippe, noch immer völlig außer Kontrolle, und windet sich dermaßen unter mir, dass ich es kaum schaffe, mich im Sattel zu halten.
Ich versuche alles, was meine Mutter mir jemals über das Reiten beigebracht hat. Ich stelle mir vor, dass ein Strick von meinem Kopf durch meine Wirbelsäule hinunterführt und mich an den Sattel fesselt. Ich stelle mir vor, ich bestünde aus Sand. Ich stelle mir vor, meine Füße wären Steinbrocken, die zu beiden Seiten von Doves Bauch hinunterbaumeln, zu schwer, um sich dort wegzubewegen.
Ich halte mühevoll mein Gleichgewicht und zwinge Dove, langsamer zu werden, aber mein Herz hämmert wie verrückt.
Ich habe nicht gern Angst vor ihr.
In diesem Moment taucht Ian Privett auf. Unter diesem eisengrauen Himmel sieht er so finster aus, als sei er auf dem Weg zu einer Beerdigung. Er reitet seinen glänzenden Schimmelhengst, Penda, durch dessen Fell sich weiße Schlieren ziehen, sodass er wie die sturmgepeitschte See unten am Fuß der Klippe wirkt. Ein paar Pferdelängen hinter ihm folgen Ake Palsson, der Sohn des Bäckers, auf einer Fuchsstute und ein braunes Capaill Uisce mit Gerald Finney auf dem Rücken, einem Cousin zweiten Grades oder so von Ian Privett. Außerdem nähert sich mit ihnen eine Gruppe von Männern zu Fuß, lärmend und sturmzerzaust.
Ich kann mir nicht erklären, was sie hier wollen und warum sie so entschlossen wirken, bis ganz zum Schluss Tommy Falk auf seiner Rappstute herangetrabt kommt. Als er mir in die Augen sieht, liegt in seinem Blick eine Warnung.
Ake Palsson reitet vorneweg auf mich zu. Er sieht aus wie sein Vater,
der Bäcker, was nicht unbedingt ein Kompliment ist, denn Nils Pals-son hat einen wilden Wust weißer Haare, tiefe Schlitze statt Augen und eine Wampe, mit der er aussieht, als würde er einen ganzen Sack Mehl unter seinem Hemd schmuggeln. Akes blaue Augen dagegen strahlen durch die schmalen Schlitze nur noch intensiver und sein weißblondes Haar wirkt eher locker zerzaust als Furcht einflößend. Trotzdem ist er beängstigend groß, und falls seine Zukunft Mehlsäcke für ihn bereithält, lässt seine stramme Silhouette davon zumindest im Moment noch nichts erahnen. Mein Vater mochte Ake. Der Junge kriegt was auf die Reihe, sagte er immer, was auf dieser Insel ein großes Kompliment ist, da es nicht für viele Leute hier gilt.
Vom Rücken seiner Fuchsstute ruft Ake fröhlich zu mir herüber: »Na, wie geht es dem dritten Connolly-Bruder heute?«
Dies bringt ihm ein Lachen von seinen Begleitern ein. Und erst als das Gelächter wieder verklungen ist, wird mir klar, dass damit ich gemeint bin.
Finneys Capaill schnappt nach Ake, als die beiden näher kommen. Es ist nichts als eine kleine Zankerei, aber das Geräusch der aufeinan-derschlagenden Zähne lässt Dove zusammenzucken.
»Wirklich jämmerlich, was heutzutage so als Humor durchgeht«, entgegne ich. Ich versuche zu überspielen, wie viel Mühe es mich kostet, Dove ruhig zu halten. Der Wind war schon schlimm genug und jetzt auch noch die Capaill Uisce.
»Steht gerade ganz hoch im Kurs«, ruft Ake zurück. In diesem dämmrigen Licht erkenne ich nur die gröberen Details seines Gesichts, darum weiß ich nicht, ob sein Lächeln freundlich ist oder nicht. »Unten am Strand nennen sie dich mittlerweile Kevin.«
Bevor ich sie davon abhalten kann, huschen meine Finger zum Rand meiner Mütze, um zu ertasten, ob meine Haare darunter hervorlugen. Gabe hat mal vor ein paar Jahren gewitzelt, dass Finn und ich genau gleich aussähen, wenn man nur die Gesichter betrachtete. Ich schäme mich ein bisschen dafür, wie sehr mich die Vorstellung, dass man mich für einen Jungen halten könnte, aus der Fassung bringt.
»Unglaublich witzig«, gebe ich zurück. »Ich reite bei dem Rennen mit, also muss ich wohl ein Junge sein, genau.« Als Ake und Finney näher kommen, lasse ich Dove einen kleinen Kreis traben, um die Tatsache zu überspielen, dass ich sie nicht mehr am Platz halten kann.
Ake zuckt mit den Schultern, als hätte er auch schon bessere Witze gehört. Hinter ihm macht Finneys Brauner einen kleinen Hopser und rempelt Akes Stute an, die daraufhin beinahe mit Dove zusammenprallt. Ich fühle Doves Furcht durch die Zügel.
Ake lacht, während Finney sein Pferd zurückreißt.
»Idiot«, spottet Finney, der sich seine Melone tiefer ins Gesicht zieht, um seine Würde wiederherzustellen. Dann ruckt er sein Kinn in meine Richtung. »Na los, Kevin, dann lass mal sehen, was du
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