Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
bestand, Saba in die Schule zu schicken. Die langen Jahre in der Stadt hatten ihn verändert, und über die Frage, ob Mädchen zur Schule gehen sollten oder nicht, dachte er nun anders als die Eltern.
Außerdem musste er mit gutem Beispiel vorangehen. Wie hätte er sonst dagestanden, wenn er bei den Bauern anklopfte, um sie zu überzeugen?
Saba kam mittags zur Schule, um dem Bruder das Essen zu bringen. Im Dorf gab es nur zwei Gemeinschaftsklassen: Morgens hatten die Größeren Unterricht, am Nachmittag die Kleineren wie sie.
Saba fürchtete sich vor Emin, auch deshalb, weil es ihr nicht gelingen wollte, in ihm den Bruder zu sehen. Als sie geboren wurde, war er bereits fortgegangen um zu studieren. Sie bekam ihn selten zu Gesicht, nur während der Sommermonate, wenn er ins Dorf zurückkehrte. Letztendlich war er für sie wie einer der vielen älteren Cousins, die kamen, um ihren Urlaub auf dem Land zu verbringen. Bei seiner Ankunft reichte er ihr einen Beutel mit roten Bonbons, die er aus der Stadt mitgebracht hatte. Das war alles, mehr gab es nicht in der Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Einmal hatte er ihr eine Puppe geschenkt: eine richtige Puppe, mit toupiertem blondem Haar, gelbem Spitzenkleid, weißem Täschchen, ebenso weißen Schuhen und rotgeschminkten Lippen. Den älteren Schwestern blieb vor Staunen der Mund offen und sie bedauerten, nicht mehr so klein zu sein wie sie.
»Was wollt ihr mit Puppen«, sagte die Großmutter. »Bald habt ihr echte Püppchen, die ihr euch an die Brust legen könnt.«
»Aber das wird kein Spaß«, antworteten sie im Chor.
»Ja, ich weiß, aber für den Spaß wird schon euer Mann sorgen«, meinte die Großmutter verschmitzt.
Alle legten Emin gegenüber ein besonderes Verhalten an den Tag. Der Vater behandelte ihn mit Respekt, weil er alles wusste. War dem Ärmsten nicht der Kopf zerplatzt, fragte er sich, nach all den Jahren über den Büchern?
Die Mutter war bekümmert, weil sie mit ihm nicht mehr schwatzen konnte wie mit den anderen. Seit er zurückgekehrt war, zog er es häufig vor, alleine zu essen.
Saba brachte das Mittagessen in einer auffälligen schwarzen Tasche mit aufgestickten roten Mohnblüten. Emin blickte abfällig auf die Blumen: Solches Zeug, dachte er, gefällt den Bauern. Wer weiß, was sie daran finden, sich beim Feuer unter der schwachen Öllampe die Augen zu verderben, um diese grauenhaften roten Blüten zu sticken.
Schweigend öffnete Emin die Tasche.
»Was soll das?«, brüllte er. »Schon wieder Maisbrot, du weißt, dass ich es hasse«, und er schlug ihr mit ganzer Kraft ins Gesicht.
Saba nahm den Schlag wortlos hin, ohne aufzubegehren. Sie dachte, dass es wirklich ungerecht war. Sie hatte weder mit dem Maisbrot noch mit den anderen Lebensmitteln, die ihm die Mutter schickte, irgendetwas zu tun.
»Du weißt, dass es nur sechs Monate im Jahr Weizen gibt, die übrige Zeit muss man sich mit Mais begnügen«, findet sie eines Tages den Mut zu erwidern.
Sofort bekommt sie eine Ohrfeige, sodass sie ihre Antwort bitter bereut. Als sie nach Hause kommt, nimmt sie ihre einzige richtige Puppe, die mit der gelben Spitze und den roten Lippen, zieht sie aus und zerreißt das schöne Kleid. Dann schmeißt sie sie in das Feuer im Ofen. Der Geruch nach Verbranntem lockt die Mutter an. Die Haare der Puppe sind bereits zu Asche zerfallen, der Plastikkörper löst sich langsam auf und verbreitet einen unerträglichen Gestank.
Meliha holt die Puppe aus dem Feuer und wirft sie in einen Eimer mit Wasser, um sie zu löschen. Sie sagt nichts.
Andere Male erging es Saba schlechter. Sie stand wartend vor ihrem Bruder und versuchte, ihm seine Reaktionen aus dem Gesicht abzulesen, während sie spürte, wie ihr der warme Urin die Schenkel hinablief. Emin sah sie angewidert an und schickte sie einen Eimer holen, um aufzuwischen. Schweigend wischte sie auf, schluckte den Geschmack der Demütigung hinunter. Dann saß sie mit feuchten Kleidern, stundenlang, bis der Unterricht endlich zu Ende war.
Eines Tages, bevor sie ihm das Mittagessen bringt, wirft sie einen verstohlenen Blick auf das Paket in der Tasche. Als habe sie es nicht ohnehin gewusst, liegt dort, einer Verdammung gleich, das ockergelbe Maisbrot. Sie beschließt, nicht in die Schule zu gehen. Sie wirft alles in den Fluss und legt sich in den Heuschober zum Schlafen.
Als es dämmert, wird sie durch das Bimmeln der Glocken geweckt, die die von den Weiden zurückkehrenden Schafe um den Hals tragen. Zu
Weitere Kostenlose Bücher