Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
zieht den Kopf beiseite, aber er ist nicht schnell genug. Die Faust trifft ihn von der Seite, die Umklammerung löst sich, und der Junge fällt schwer vornüber. Habib schiebt ihn beiseite und zieht seinen Sohn hoch, der wieder beginnt, gleichmäßig zu atmen.
Zunächst bemerkt niemand, dass sich der andere Junge nicht mehr rührt. Alle glauben, dass er nur erschöpft ist von dem albernen Kampf, der im Spaß begonnen hatte. Dann versuchen sie ihn aufzurichten, aber er reagiert nicht. Seine Augen sind geweitet, der Mund steht offen. Habib ist besorgt, er schüttelt ihn und ruft ihn beim Namen, vergeblich. Er versucht auf jede erdenkliche Weise, ihn wiederzubeleben, aber es ist nichts mehr zu machen. Tot, auf der Stelle, durch einen Faustschlag hinter das linke Ohr.
Es gibt keine Worte, um Habibs Verzweiflung zu beschreiben. Aber für seinen Kummer scheint sich niemand zu interessieren.
»Er ist ausgegangen, um ein paar Freunde zu treffen, und dann bringen sie ihn mir im Quefin zurück«, heult die Mutter des Jungen. »Achtzehn Jahre in ein einfaches weißes Laken geschlagen. Verflucht sei die Hand seines Mörders. Möge seine gesamte Familie sieben Generationen lang keinen Frieden finden, mögen die Frauen die Fetzen ihrer Söhne aufsammeln, um sie zu begraben!«
Nie zuvor hat sich ein Fluch derart schnell bewahrheitet. Nach den Verwünschungen beginnt die Totenklage und die vierzigtägige Trauerzeit. Für die Mutter wird diese Zeit jedoch Jahre dauern.
Ahmed Zogus Gendarmen kommen, um Einzelheiten zu erfragen. Der zukünftige König Zogu I., der versucht, das Land zu modernisieren, lässt keine Gelegenheit aus, um einzugreifen und die Ausübung des Kanun zu verhindern.
»Geht ruhig«, sagen die Verwandten des toten Jungen. »Es ist eine Angelegenheit, die euch nicht betrifft, sie betrifft nur unsere Familien.«
Armer Ministerpräsident, der nicht mehr weiß, wie er diesem Volk begreiflich machen soll, dass es Gesetze gibt, um das Land zu regieren. Dieses Volk will einfach nicht begreifen. Es hat so viele Kriege, Regierungen und Gesetze gesehen, aber mit dem Kanun schaffen es die Leute, ihr gesamtes Leben zu regeln. Jede Gegend hat ihren eigenen Kanun, im Norden ist es der von Lekë Dukagjini, und hier im tiefen Süden ist es der Kanun der Labëria.
Man schreibt das Jahr 1923, die Regierung treibt in finsteren Gewässern. Im darauffolgenden Jahr wird ein Priester aus dem Exil in Amerika zurückkehren, um die erste demokratische Umwälzung des Landes zu bewirken. Aber es dauert nicht lange. Jeder weiß, dass sich die Macht mit Gottespredigten nicht halten lässt. Regeln und exemplarische Strafen, das ist es, wonach dieses wilde Land verlangt, ein Land, in dem es leicht ist, an die Macht zu kommen, aber sehr viel schwieriger, dort zu bleiben.
Nach der vierzigtägigen Trauerzeit klopfen zwei Männer aus dem Clan von Habib zusammen mit dem Imam und zwei Mitgliedern aus dem Rat der Weisen des Dorfes an die Tür der Familie des Jungen. Sie wollen Rache vermeiden. In einem so kleinen Dorf, in dem alle durch Ehen und Bündnisse miteinander verschwägert sind, würde Rache das Leben Dutzender Menschen zerstören.
Die Familie des Verstorbenen ist ziemlich arm, aber alles in allem sind es anständige Leute. Die Mutter will das große Zimmer der Männer nicht betreten und die Beileidsbekundungen nicht empfangen, aber ihr Wehgeschrei dringt durch die Wände und lässt alle erschauern. Die Worte der Männer verlieren sich in den heiseren Rufen der Mutter, im trostlosen Klang ihrer Klagen.
Der Imam wagt es nicht, von Vergebung zu sprechen, aber er gibt zu verstehen, wie unbesonnen ein Racheakt gegen die Söhne Habibs wäre. Er spricht von Schuld. Ja, auf Habibs Familie lastet eine große Blutschuld, aus diesem Grund sind die Weisen hier: um die Bedingungen und Regeln zur Begleichung dieser Schuld auszuhandeln.
»Wir haben in unserer Gemeinde einen so frühen Tod zu beklagen, was bringt uns ein weiterer? Lasst uns eine Lösung finden, Männer, wir wollen versuchen das Licht der Vernunft zu gebrauchen. Wir dürfen es nicht zu weiteren Toten kommen lassen, die niemanden zurück zum Leben erwecken würden …«
Während diese Worte gesprochen werden, öffnet sich die Zimmertür, und die Mutter tritt ein. Ganz in Schwarz gekleidet geht sie auf den Imam zu. Ihr Gesicht ist von noch nicht verheilten Kratzern überzogen, sie zieht den langen schwarzen Schleier hinter sich her, der auf die bunten Blumen des Quilim fällt. Sie
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