Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
dreht sich nicht einmal um, um ihn aufzuheben. Mitten im Zimmer bleibt sie stehen, zeigt mit dem Finger auf Habib und starrt ihm in die Augen: »Dieser Mann kommt nach Hause und sieht jeden Abend seine Kinder bei Tisch, ich dagegen muss zum Friedhof gehen und einen Haufen Erde umarmen … Raus hier, alle raus …«, aber sie bringt den Satz nicht zu Ende. Zwischen all den Männern fällt sie in Ohnmacht. Die Frauen kommen herein und versuchen, sie wiederzubeleben. Einige mit Veilchenwasser, andere mit der Rakiflasche. Der schwarze Schleier neben ihrem Körper bedeckt die fröhlichen Farben des Quilim, bedeckt für immer die Farben ihres Lebens.
Meliha begreift sofort, dass es unmöglich sein wird, von Frieden zwischen den beiden Familien zu reden. Sie weiß, was sie tun muss.
Es ist Freitag, der Wochentag, den man gemeinhin Xhuma nennt, an dem die Mutter zum Friedhof geht, um ihren Sohn zu besuchen und zu beweinen. Sie wird von den Frauen der Familie und anderen Dorffrauen begleitet. Ein Zug schwarzer Schleier, die in der Luft flattern. Der Wind trägt die Worte der Totenklagen, die schon vor dem Verlassen der Häuser einsetzen, weit fort.
Am Xhuma, der auf die verweigerte Vergebung folgt, mischt sich eine Frau in den Zug, die in diesem Augenblick nicht dort sein dürfte. Sie ist von Kopf bis Fuß mit einem Schleier bedeckt. Sie zittert, sie zittert vor der Rache, die als Drohung über den Köpfen aller männlichen Familienangehörigen schwebt. Sie zittert vor Schmerz über jenen armen Jungen, der auf so verhängnisvolle Weise ums Leben kam, und sie zittert um seine Mutter. Der Kontakt mit der kühlen Erde, auf der sich alle Frauen niedergelassen haben, bewegt auch sie zu einer kraftvollen Totenklage, zu einem Dialog mit dem Toten und vor allem mit dem Tod, der ihn ganz für sich haben wollte.
In Erde schwarz, ruhst du mein Sohn,
Die Nacht bricht an in Kürze schon.
In kalter Erde liegst du nieder.
Oh Tod, oh Tod, gib ihn uns wieder.
Melihas Gegenwart ist sofort spürbar. Nicht viele sind in der Lage, die Reime so aneinanderzureihen wie sie.
Die anderen Frauen verstummen von einem Augenblick auf den anderen und warten ängstlich auf die Reaktion der Mutter des Verstorbenen.
In der Stille vernimmt man Melihas Stimme umso kräftiger:
Sobald es Nacht, der Mutter Herz,
zergeht in unsagbarem Schmerz.
Ohne Lebwohl bist du gegangen,
Geliebter Sohn, dir gilt mein Bangen.
Meliha wischt sich die Tränen ab und lässt niemandem Zeit, sich einzumischen.
»Lasst uns allein«, sagt sie.
Die anderen Frauen entfernen sich eilig. Die beiden bleiben einander gegenüber sitzen, zwischen ihnen der blumenbedeckte Erdhügel. Meliha reicht ihr eine Zigarette und erhebt sich mit einer Geste, die keine Widerrede duldet, um sie ihr anzuzünden. Hier ist es seit jeher nur zwei Arten von Frauen erlaubt zu rauchen: denen, die einen schweren Trauerfall zu beklagen haben, und denen, die schon alt sind. Meistens sind die Alten, die rauchen, als junge Frauen von einem schweren Trauerfall getroffen worden.
»Ich bin gekommen, um den Frieden zwischen den Familien herzustellen«, sagt sie. »Die Hälfte unserer Ländereien gehört euch. Das bringt deinen Sohn nicht ins Leben zurück, aber auch der Tod eines meiner Söhne würde das nicht tun. Diese Geschichte ist hiermit beendet. Mein Beileid. Ich fühle aufrichtig mit dir und würde alles Land und alle Güter hergeben, um nicht an deiner Stelle zu sein … Ich würde es nicht überleben …«
Sie wird sich an diese Worte erinnern, als sie sich, Jahre später, an Stelle der anderen befindet und dennoch überlebt.
Während sie bereits im Begriff ist zu gehen, wendet sie sich noch einmal um und sagt:
»Was ich noch vergessen habe … Sobald die Trauerzeit vorbei ist, wird dein Sohn Omer meine Tochter Sultana heiraten, so werden wir eine Familie, und der Frieden zwischen uns ist von Dauer. Ich will den kommenden Generationen keinerlei Gelegenheit zur Rache geben.«
Eine weise Frau, Meliha. Land besiegelt keinen Frieden, es sind die Ehen, die unzerstörbare Bündnisse zwischen den Familien schaffen.
Habib erfährt, wie seine Frau die Dinge geregelt hat. Er sagt nichts, was soll er auch sagen? Seit dem verhängnisvollen Tag hat er die Sprache verloren.
So finden sie ihn einige Tage später, stumm und leblos inmitten seiner Felder.
Er ist vor Kummer gestorben, heißt es im Dorf. Der Ärmste, all die Ärmsten. Ein Junge, der durch seine Schuld stirbt, die Rache, die seinen Söhnen droht, und
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