Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
isoliert. Die Leute fühlten sich mächtig wie die Grabsteine, die, ohne es zu wissen, für die Ewigkeit bestimmt sind. Die Vergangenheit war die einzige Gewissheit, sich an sie zu klammern, sicherte das Überleben.
Die Leute in Kaltra lebten von der Schafszucht und von dem, was das bisschen Land hergab, das sich, wie eine schmale Decke auf einem großen Bett, am Fuß der Berge erstreckte. Fruchtbares Land, aber nicht genug für alle.
Man wusste nie genau, zu welchem Verwaltungsbezirk Kaltra gehörte. Die armen Bergbewohner, die, wie schon ihre Großväter und Urgroßväter, in die Stadt hinabgestiegen waren, um die üblichen Angelegenheiten zu regeln, mussten sich eines Tages sagen lassen, dass sie nun zu einem anderen Verwaltungsbezirk gehörten. Für welchen Bezirk auch immer, Kaltra war letztlich nur eine Last.
Die weißen Häuser waren hinter Bäumen und üppiger Vegetation versteckt, aber sie standen, anders als man es in jener verlorenen Gegend vermuten würde, dicht an dicht.
Im Dorfzentrum, auf dem Platz, befand sich die Statue eines großen Kriegers. Groß wurde er nur so genannt, denn die Spuren seiner Identität waren gänzlich verwischt. Man wusste nicht mehr, in welche Epoche und zu welchem Krieg er gehörte. Ursprünglich hatte er ein Schwert in der Hand gehalten, aber nur die ganz Alten konnten sich daran noch erinnern. Dafür hatte sein dichter Schnauzbart die Zeit überdauert. Sie nannten ihn alle »den kleinen Schnauzbart«, und oft setzten sich die jungen Männer, sobald es dunkel wurde, zu seinen Füßen nieder und sangen die mehrstimmigen Lieder der Gegend.
Neben dem kleinen Schnauzbart lag die einzige Dorfkneipe. Nur für Männer. Es gab das Übliche, türkischen Kaffee und Raki. Manchmal reichte der Wirt zum Raki einen Teller, auf dem er Feta, zwei kleine frische Zwiebeln und ein paar kurz angebratene Schafsinnereien anrichtete. An Festtagen briet er dagegen Lämmchen am Spieß.
Die Kneipe hatte keinen Namen, aber alle nannten sie nach ihrem Besitzer: Osman. Der verdiente nicht schlecht. Osman hatte zu jeder Tageszeit geöffnet, bisweilen sogar bis spät in die Nacht, wenn irgendeine zarte Seele die Asche ihres Schmerzes oder Liebeskummers im Rakidunst zu zerstreuen versuchte.
Bei Osman passierte alles Mögliche: Man vereinbarte Hochzeiten, verkaufte Vieh oder Land, man schoss in die Luft, um die Geburt eines Jungen zu verkünden, und man amüsierte sich auch.
Ausgerechnet auf diesem Platz beginnt der Niedergang der Familie Buronja. Die übliche Geschichte des sich drehenden Rades, untergehende Schicksale und andere, die emportauchen, alle in demselben Netz verstrickt. Habib, Melihas Mann, wird in eine absurde Geschichte hineingezogen, die das Leben aller verändert, vor allem das von Saba, die damals noch ein Kind ist.
Es ist ein ruhiger Herbsttag, und Habib befindet sich auf dem Heimweg, nachdem er bei Osman einen kurzen Plausch mit den anderen Männern des Dorfes gehalten hat. Neben dem kleinen Schnauzbart sieht er eine Gruppe Jugendlicher, die schreien und großen Lärm veranstalten. Junge Leute, denkt er, und lächelt. Aber als er näher kommt, bemerkt er, dass zwei von ihnen in dem aufgewirbelten Staub, der von der trockenen Erde aufsteigt, gegeneinander kämpfen. Ein regelrechtes Gefecht, vielleicht wegen einem Mädchen, auf das es beide abgesehen haben. Dann sieht er, dass einer der beiden sein Sohn ist. Er beschließt, einfach weiterzugehen, der Junge wird schon allein zurechtkommen. Er würde ihn zum Gespött machen, wenn er eingreifen würde, sein Sohn wäre der Tölpel ohne Mumm, der sich von seinem Vater retten lassen muss. Er dreht sich noch einmal um und schaut in die aufgerissenen Augen seines Sohnes, in das Gesicht, das blau anläuft, während ihm der andere Junge die Gurgel zudrückt und ohne lockerzulassen brüllt: »Ich bring dich um, hörst du? Ich bring dich eigenhändig um!« Im Blick des Sohnes erkennt er den lautlosen Hilferuf, den Schrei des einsamen Wolfes inmitten von Schnee, der ringsum den Tod wittert. Der andere Junge ist außer sich, er hat seine Wut nicht mehr unter Kontrolle.
Habib dreht um, er schmeißt sich auf sie und versucht, den Sohn aus der wütenden Umklammerung zu befreien. Nichts zu machen, es ist unmöglich. Aber er muss diese Hände vom Hals seines Sohnes lösen, Hände, die durch die Tücke des schon besiegelten Schicksals gebunden sind. Er richtet sich auf, um dem Jungen einen Faustschlag zu versetzten. Der versucht auszuweichen und
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