Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Hause tut sie so, als sei nichts geschehen. Aber es dauert nicht lange, und Emin tritt in die Küche, sieht die Mutter an und sagt:
»Ihr habt also beschlossen, mein Mittagessen einzusparen. Dazu habt ihr kein Recht, schließlich bin ich der Einzige der Familie, der für den Staat arbeitet und echtes Geld nach Hause bringt.«
Im ersten Augenblick begreift die Mutter nicht, doch dann sieht sie Saba an und kann sich denken, wie die Dinge gelaufen sind. Dem Sohn erzählt sie, dass es ihr Fehler war und dass es nie mehr vorkommen wird. Als er nicht aufhört sich zu beklagen, sagt sie ihm:
»Ein Mann heult nicht so wegen einem Stückchen Brot. Ich habe dir gesagt, dass es nicht wieder vorkommt. Raus jetzt, die Küche ist kein Ort für Männer.«
Meliha will Saba jedoch eine Lektion erteilen. Diese Tochter, denkt sie, hat niemals auch nur eine Ohrfeige bekommen. Heute bringt sie ihrem Bruder das Mittagessen nicht, und morgen wird sie sich weigern, für den Ehemann zu kochen. Irgendwo fängt es immer an.
Aber es wird das erste und das letzte Mal sein, dass sie Saba bestraft, die Ehe allerdings nicht mitgezählt, die sie ihr einige Jahre später auferlegt.
Sie ruft nach ihr. Saba folgt ihr mit kleinen Schritten in den Hof. Im Garten Brennnesseln zu pflücken und damit ihre nackten Beine zu peitschen, wie sie es bei den anderen Töchtern macht, widerstrebt ihr. Saba hat so schmale Schenkel und so zarte, weiße Haut, dass sie es nicht über sich bringt. Sie betrachtet den großen Nussbaum, und ihr kommt eine Idee. Sie läuft zum Heuschober und kehrt mit dem Strick für den Esel in der Hand zurück. Nur für ein paar Minuten, denkt sie, nur um ihr Angst einzujagen. Letztlich ist es die Angst, die den Dieb vom Weinberg fernhält, heißt es. Sie bückt sich und bindet ihr die Füße zusammen, wie bei den Hühnern, die sie auf den Markt bringt. Sie hebt sie hoch und hängt sie kopfüber an einen Nussbaumast. Saba lässt alles über sich ergehen, ihre dünnen Arme öffnen sich und verlieren sich in den Zweigen. Sie gleicht einer umgedrehten Vogelscheuche.
Saba weint nicht, sie fleht nicht nach der Mutter. Meliha zerreißt es das Herz, aber sie will bis zum Äußersten gehen. Es ist zu ihrem Wohl, denkt sie, es ist nur zu ihrem Wohl. Diese Strafe wird nur zwei Minuten dauern, nur um sie zu erschrecken …
In dem düsteren Hof hört Meliha aus dem Haus jemanden nach ihr rufen. Sie versteht nicht, was drinnen gesprochen wird und läuft zur Tür. Sie geht hinein, um wer weiß welches Problem zu lösen. In einer so großen Familie wird sie immer gebraucht. An Saba denkt sie nicht mehr.
Zwei Stunden später rennt sie wie eine Irre hinaus. Zitternd nähert sie sich dem Nussbaum. Sie sieht ihre Tochter, die immer noch dort hängt und sanft im Wind schaukelt. Sie greift nach ihr, bindet sie los, hebt sie hinunter. Saba bewegt sich nicht.
Sie ist tot, denkt die Mutter. Sie schreit verzweifelt und drückt sie an die Brust. In diesem Augenblick öffnet Saba die Augen. Sie war in Ohnmacht gefallen, vielleicht wegen der Kälte, vielleicht aus Angst.
Meliha weint und lacht gleichzeitig.
»Was habe ich dir angetan, meine Tochter? Was habe ich dir bloß angetan? Beinahe hätte ich dich umgebracht. Mögen mir die Hände vertrocknen und die Arme dazu …«
Diese Nacht wird Saba niemals vergessen. Die Mutter bleibt bei ihr bis zum Morgengrauen. Sie küsst ihre Hände, ihre Füße, ihr Gesicht und das helle Haar.
Saba denkt in dieser Nacht, dass es gar nicht schlecht wäre, wenn die Mutter sie ein wenig öfter bestrafen würde. Aber es kommt nie wieder vor.
Drei
Das Dorf lag versteckt zwischen hohen Bergen. Es schien mit niemandem und nichts in Verbindung zu stehen, außer mit der Zeit. Man konnte froh sein, wenn einem das Herz nicht stehen blieb, während man jene Bergschlucht durchquerte, so hieß es zumindest in einem alten Lied. Aber diese Gefahr war gering, denn es geschah selten, dass jemand nach Kaltra kam.
Kaltra: blau. Blau wie das Wasser, das im Dorfzentrum aus dem Erdinneren quoll. Kaltra hieß auch der Fluss, der von den Bergen ins Meer hinabfloss. Er zog sich unter geschwungenen Brücken aus weißem Stein entlang, an den immerwährenden, stolzen Bergen vorbei.
Die Berge ragten wie gut geschärfte Klingen in den Himmel, als wollten sie die Menschen, die hier lebten, von der Welt abschneiden. Viel zu bieten hatte die Welt nicht, nicht einmal die Dinge, die man wirklich benötigte. Dennoch fühlte sich in Kaltra niemand
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