Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Propaganda macht?
»Falls sie versucht zu stehlen, werden wir sie sofort erwischen«, sagt Saba. »Wohin soll sie hier in den Bergen fliehen? Und was die Geschichte mit der Propaganda betrifft, so hat sich die Ärmste nur von der Liebe in die Irre führen lassen. Meiner Meinung nach versteht sie überhaupt nicht, worum es geht.«
Der Parteisekretär lässt sich überzeugen, und am Ende hat Lisa den Posten als Verkäuferin.
Lisa ist Italienerin und ihr Mann Wilfred Österreicher. Man hat sie an einem Frühlingsnachmittag aus der Hauptstadt geholt. Alle waren bei ihrer Ankunft auf dem Dorfplatz dabei. Solche Dinge waren für niemanden mehr etwas Neues. Man wies ihnen eine verlassene Ruine in der Nähe von Sabas Haus zu.
Saba war auch die Erste aus der Nachbarschaft, die sie besuchen kam. Sie hatte eine Süßspeise zubereitet, eine Revania, und eines Nachmittags klopfte sie, mit der Schüssel unterm Arm, an ihre Tür.
»Ich komme euch besuchen, ich weiß, dass ihr noch niemanden kennt …«
Ihnen blieb vor Staunen der Mund offen. Dann baten sie sie hinein. Als sich Saba erhob, um nach Hause zu gehen, war es bereits dunkel.
Lisa war in den Dreißigerjahren nach Albanien gekommen, mit ihrem ersten Mann, einem italienischen Ingenieur. Dann starb er bei einem Verkehrsunfall, und das, wo er hergekommen war, um Straßen zu bauen. Lisa, die nun Witwe war, beschloss, dennoch mit ihren kleinen Töchtern in Albanien zu bleiben. Es waren noch die goldenen Zeiten, in denen man rief: »Es lebe Viktor Emanuel, König von Italien und Albanien.« Während des Krieges verliebte sie sich hoffnungslos in Wilfred, einen Österreicher, der unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen im September 1939 nach Albanien gekommen war. Vielleicht war er ein Emigrant aus dem Dritten Reich, der, um über die Grenze zu gelangen, seine politischen Beweggründe verschleiern musste, und sich so auch in den Augen der Gegenseite verdächtig machte. Sie hatten geheiratet und den Krieg überstanden.
1945, vor der Zeit des Eisernen Vorhangs, hatten die Behörden Lisa angeboten, das Land zu verlassen und nach Italien zurückzukehren. Sie wollte, aber nur zusammen mit ihrem neuen Mann. Nein, sie könne mit den Töchtern nach Italien gehen, sagte man ihr, aber er dürfe Albanien nicht verlassen. Lisa klapperte alle Abteilungen des Außenministeriums und später des Zentralkomitees der Partei ab, vergeblich. Wilfred musste bleiben, warum auch immer. Es wurde viel erzählt: Dass er ein angloamerikanischer Geheimagent gewesen sei oder gar ein deutscher Spion, der in Albanien nach Juden gesucht hatte. Aber die Wahrheit kam nie heraus. Ohne ihren geliebten Wilfred wollte Lisa Albanien jedoch nicht verlassen. Allerdings war sie nicht vollkommen naiv, nahm Kontakt mit ihrer Familie auf und schickte die Töchter nach Italien. Sie dachte: Man weiß nie, und wenn sie das Land nun für immer dichtmachen?, auch wenn sie nicht an eine vollständige Schließung der Grenzen glaubte. Letztlich, so sagte sie sich, wird man Wilfred ein Visum ausstellen, und dann gehen wir zusammen. Wie kann man ein Land abriegeln? Es ist schließlich kein Laden. Die gute, die sanfte, die traurige Lisa wusste nicht, dass sich auch ein Land schließen lässt, ebenso wie ein Laden. So wie die Kinder des Ladenbesitzers nach dessen Tod, wenn sie noch nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, erst mal die Rollläden herunterlassen. Dann werden sie sich nicht einig, und die Rollläden bleiben für immer unten. Für immer, oder beinahe für immer. Auf diese Weise zerstören sie die Dinge, die dem verstorbenen Vater am teuersten waren. Am Ende bleibt nur noch Schimmelgeruch und der herbe Duft der Erinnerungen zurück, die bloß von ein paar in die Falle getappten Mäusen belebt werden. Für sie gibt es kein Entkommen.
Wilfred bekommt sein Ausreisevisum 1992, zusammen mit Lisa. Aber es sind Visa mit unterschiedlichen Reisezielen: Für ihn ist es Österreich, für sie Italien. Lisa will nach nunmehr siebenundvierzig Jahren endlich ihre Töchter wiedersehen, und Wilfred hat nicht die Kraft, erneut in ein fremdes Land zu gehen. Er möchte nur noch in der Heimat sterben.
Bis zu diesem Zeitpunkt werden Lisa und Wilfred in Sabas Dorf bleiben, in jener halb verfallenen Ruine, die den Namen »Feindhaus« bekommt.
Ein Haus, das dazu bestimmt war, zwei weitere Familien aus der Hauptstadt aufzunehmen. Die eine bestehend aus der Mutter und ihren beiden wunderschönen Töchtern. Interniert wegen Prostitution,
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