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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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»Wunderbar, großartig, außerordentlich.«
    Von Melihas Garten aus möchte er das Tal und die umliegenden Berge fotografieren.
    »Und Sie«, wendet er sich an Meliha, »haben jeden Tag Ihres Lebens dieses Tal mit den hoch aufragenden Bergen gesehen, ohne sich jemals eingeengt zu fühlen?«
    »Ich hatte höchstens Angst, dass sie auseinanderbrechen und die Welt untergehen könnte.«
    Der Franzose ist beeindruckt von dieser uralten Frau und ihrer so verdammt epischen Sicht der Dinge.
    Er hat viel gelesen, der Franzose, er erinnert sich gut an die Fotos mit dem Porträt des Dichters George Gordon Byron, oder besser Lord Byron, in der Tracht jenes Landes im tiefen Balkan. Aber er hatte geglaubt, dass nach über einem Jahrhundert jene Bräuche ausgestorben und begraben seien.
    »Episch ist nicht das richtige Wort«, meint er kurz darauf zum Dolmetscher. »Homerisch, genau, homerisch passt besser. Und das Ganze nur einen Katzensprung von uns entfernt, unglaublich.«
    »Wunderbar, großartig, außerordentlich«, wiederholt der Journalist in einem fort.
    »Was sagt er da die ganze Zeit?«, fragt Meliha den Dolmetscher.
    Sie glaubt, dass sich »wunderbar, großartig, außerordentlich« auf die Berge, das Tal und das Dorf beziehen. Als gute Hausherrin fühlt sie sich verpflichtet, dem Franzosen zu danken und ihn vielleicht gar zu trösten. Nicht alle haben das Glück, an einem so schönen Ort wie diesem zur Welt zu kommen.
    »Von wo kommt der verehrte Herr?«, fragt sie.
    »Aus Frankreich, besser gesagt, aus Paris«, antwortet der Dolmetscher mit dem Stolz des Provinzlers, der die Gelegenheit hat, eine wichtige Persönlichkeit herumzuführen.
    »Geduld, er muss Geduld haben und darf sich nicht unterkriegen lassen«, fährt Meliha fort. »Mir ist klar, dass sie keine Berge bauen können, aber ein Dorf wie unseres schon. Wenn ihnen daran liegt, können sie Paris früher oder später so wie Kaltra werden lassen. Aber jetzt entschuldigt mich, ich muss zurück ins Haus, um meine müden Knochen im Sessel auszuruhen: Ich bin alt.«
    Was soll der arme Junge übersetzen? Irgendwo gibt es immer ein geliebtes Kaltra oder Paris, der Name ist belanglos. Unser Zuhause ist dort, wo wir alles in einer letzten Umarmung umschließen möchten.

Einundzwanzig
     
    In letzter Zeit wartet Bedena oft auf den Bus in die Stadt. In einem kleinen Dorf wie Kaltra fallen manche Dinge einfach auf. Allerdings macht sich niemand darüber Gedanken, was sie eigentlich vorhat. Es ist eine Frage der Zeit, schon bald wird man den Grund erfahren.
    Eines Tages hält ein Krankenwagen auf dem Dorfplatz. Wem wird es denn so schlecht gehen, fragen sich alle, dass man diesen Wagen aus der Stadt kommen lässt?
    Zwei Krankenpfleger steigen aus, blättern in ihren Papieren und wenden sich an einen Passanten, der auf ein Haus auf einer Anhöhe deutet. Die Krankenpfleger schütteln die Köpfe: Ausgeschlossen, dort hinaufzufahren, der Krankenwagen schafft die Steigung nicht. Sie ziehen eine rostige Metallbahre aus dem Wagen und gehen zu Fuß. Von der Bahre hängen zwei Lederriemen herab, der Schatten der Riemen zieht sich schleppend über die heiße Erde, ohne Spuren zu hinterlassen.
    Als sie auf Bedenas Hof ankommen, ist Atika damit beschäftigt, ihre Puppen zu wiegen. Ihre vibrierende Stimme verliert sich im Singsang der Schlaflieder, die sie von den Schwestern und Schwägerinnen gehört hat, von anderen Frauen, Müttern. Sie wendet nicht einmal den Kopf, um zu sehen, wer kommt, es sind Dinge, die sie nicht betreffen. Ihre Welt ist auf diesen kleinen Hof beschränkt, ihre Zuneigung gilt diesen einfachen Stoffstücken.
    Die Krankenpfleger sprechen zunächst mit Bedena, sie lassen sich in ihrem sommerlichen Wohnzimmer unter dem Weinstock nieder. Sie lehnen sich an die Kissen, die mit grünen Blättern und Blumen, mit fliegenden Frühlingsvögeln bestickt sind. Als Bedena sie stickte, träumte sie von ihrem prallen, von neuem Leben anschwellenden Leib, Leben so anders als jenes, das mit Atika auf diese Welt kam.
    Bedena bietet den Gästen ein Glas Dhallë an. In der Hitze der Berge, die den Fels zum Glühen bringt, löschen sie den brennenden Durst, und mit ihm erlischt auch der letzte Funken mütterlicher Liebe.
    Bedena unterschreibt irgendwelche Papiere. Sie schreibt Vor- und Zunamen aus, die unsicheren Buchstaben stehen dort wie das nie gelöste Rätsel der ungeliebten Kinder. Seltsam, dass die Mutter, die sie zur Welt bringt, dieselbe ist, die es verstand, ein Heim zu

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