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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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errichten, den Brunnen zu graben und zu singen … Wer weiß, wohin die Mutterliebe sich verflüchtigt, wenn sie das Herz der Frau verlässt, vielleicht in die verborgensten Winkel des verdorbenen Blutes oder in die Stille des ausgetrockneten Flusses.
    Die Krankenpfleger gehen langsam auf Atika zu. Sie bemerkt es, hebt den Kopf und lächelt die beiden an. Für einen Augenblick unterbricht sie ihren Singsang und hält ihnen eine Puppe hin. Es ist die übliche Geste, die besagt: Ist es nicht hübsch, mein Kind?
    Sie versuchen mit ihr zu sprechen, sie versuchen ihr zu erklären, dass sie mitkommen muss, um ein paar Untersuchungen im Krankenhaus durchführen zu lassen. Sie versteht die beiden nicht richtig, es geht ihr doch gut hier, sie braucht keine Untersuchungen.
    Die Krankenpfleger möchten ungern die alte Metallbahre benutzen, die sie in der Zwischenzeit auf der Erde abgestellt hatten, aber Atika widersetzt sich, sie will nicht mitkommen. Sie weiß schon, dass sie sich nicht von ihrem Platz im Hof entfernen darf, weil sonst schlimme Dinge mit ihr geschehen. Wie an dem Tag, als die Mutter sie geschlagen hat. Atika sucht ihren Blick, aber die Mutter ist nicht da, sie war nie da.
    Die Krankenpfleger nehmen die Bahre und heben Atika hinauf. Sie ist leicht wie ein Schmetterling. Hände und Füße sind mit den Lederriemen festgebunden, sie schreit und weint, aus ihrem Mund quillt Schaum, die Augen treten aus den Höhlen.
    Auf der Erde liegen die Puppen, die sie mit ihrer Liebe genährt hat. Sie werden nach anderen Armen suchen, die sie wiegen. Aber nein, einer der jungen Männer bemerkt es, kehrt um, hebt die Puppen auf und bettet sie neben Atika. Sie lächelt und schließt die Augen, nun hat sie keine Angst mehr. Ihre Kinder sind in Sicherheit.
    Als Saba erfährt, dass ihre Schwester die Tochter in die Irrenanstalt gebracht hat, geht sie sofort zu ihr. Bedena begrüßt sie wie immer, dieselbe Kühle, derselbe Empfang wie seit Jahren. Bestimmte Mechanismen, die auf unerklärliche Weise unser Verhältnis zu den engsten Verwandten steuern, lassen sich durch nichts verändern, weder durch Freude noch durch Schmerz. Nicht einmal der Tod kann sie beenden. So werden sie zu bloßen Familiengeschichten, die man von einer Generation an die nächste weitergibt.
    Saba fragt nicht, was aus Atika geworden ist, und auch Bedena hat nicht die Absicht, darüber zu sprechen. Sie trinken wie üblich Kaffee und tauschen ein paar belanglose Worte aus. Als Saba bereits an der Tür ist, wendet sie sich zu Bedena um, sieht ihr in die Augen und sagt:
    »Arme Schwester, du hast deine Gier nach diesem verdammten Gold, das dein Leben nicht verändern konnte, bis aufs Letzte bezahlt. Vielleicht hat es sogar etwas verändert, hat alles noch schlimmer werden lassen. Schau dich an, was aus dir geworden ist, kann man sein eigenes Kind so verleugnen? Nicht einmal meinem schlimmsten Feind würde ich wünschen, dass er so wird wie du. Ich wüsste gern, ob du noch schlafen kannst nach dem, was du Atika angetan hast. Möge der ewige Schlaf dich umfangen, der, aus dem es kein Erwachen gibt …«
    Nach dieser Verwünschung eilt Saba davon. Bedena setzt sich wieder aufs Sofa. Äußerlich wirkt sie ruhig, aber in ihrer Brust spürt sie ein Ziehen, eine Wunde, die sich nach Jahren wieder öffnet. Sie hört lautlose Schritte von Leuten, die sich durch die Finsternis bewegen. Die Sterne funkeln über den vom Sonnenlicht noch warmen Felsen. Sie kennt diese Leute, es sind ihre Leute, sie selbst, ihr Mann, die Schwiegereltern und Schwäger.
    Es war gegen Ende des Krieges, die Deutschen hatten bereits kapituliert. An anderen Orten der Welt wurde noch Widerstand geleistet, aber es war das Ende. Bedena hatte ihre Kinder zu Bett gebracht und war, mit der Lampe in der Hand, auf dem Weg zurück in die große Küche, dem Raum für die Frauen des Hauses. Sie lebten damals noch alle zusammen. Nach dem Abendessen mussten sie und die Schwägerinnen den Abwasch erledigen und die Vorbereitungen für das Frühstück am nächsten Morgen treffen.
    Sie ist noch nicht ganz die Treppen hinabgestiegen, als sie den Lärm eines nahenden Flugzeugs hört. Die Bombardements sind beendet, seit ein paar Monaten kommen keine Flieger mehr vorbei. Sie denkt nicht weiter darüber nach, vielleicht ist das Flugzeug auf dem Weg ins Ausland vom Kurs abgekommen, oder vielleicht flieht jemand vor dem noch nicht ganz beendeten Krieg. Es könnten auch die Alliierten aus Übersee sein, die den von den

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