Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
genau, was sie zu tun hat.
Zwanzig
Es ist ein Xhuma im Herbst, als Myrto Saraja heiratet. Eine Hochzeit ohne Feierlichkeiten und aufwendige Zeremonien. Die Verwandten kommen nicht schon einen Monat eher, die Trommeln ertönen nicht bereits in der Woche zuvor.
Nicht, weil Saraja eine Kulak ist, Myrto legt ganz einfach keinen Wert auf derartige Dinge.
»Ich hab genug von Hochzeitstrommeln und Totenklagen«, sagt er. »Ich nehme Saraja so, wie sie ist und führ sie nach Hause.«
»Was?«, fragt Tana. »Meine Tochter soll heiraten wie eine Witwe? An einem Xhuma? Mein armes Kind, das hat sie wirklich nicht verdient.«
Tana ist schlau. Dank dieser Hochzeit kann sie die Aufmerksamkeit aller auf sich lenken und sagen: »Seht nur, wir sind gar nicht solche Kulaken, wir ihr denkt. Einer wie Myrto hätte sich schließlich nie mit Volksfeinden eingelassen.«
Meliha ist überglücklich an diesem Freitag. Sie trägt wie immer Schwarz. Ein Paar lange goldene Ohrringe mit farbigen Steinen sind das einzige festliche Zeichen. Sie sieht die Dorffrauen bei der Ankunft der Braut singen. Sie erlebt diesen Tag wie ein Gast, ein Gast im eigenen Haus. Sie singt nicht und spricht mit niemandem. Sie ist es leid, Hochzeitsverse aufzusagen. Sie ist auch die anderen Verse leid, jene verfluchten anderen Verse, die sie allzu oft hatte sprechen müssen.
Wenige Tage vor Myrtos Hochzeit kommt ein ausländischer Journalist nach Kaltra, der sich für die Folklore und die Landschaft dieser abgelegenen Gegend interessiert.
Es ist Ende der 50er Jahre. Der junge Mann muss Mitglied einer ernst zu nehmenden kommunistischen Partei sein, sonst hätte man ihn nicht hineingelassen. Zuerst ist er vor dem Denkmal auf dem Dorfplatz stehen geblieben, um es zu fotografieren. Anstelle des Schnauzbarts aus den ersten Nachkriegsjahren steht dort nun ein anderer Held, ohne Bart. Das Schwert ist durch ein Gewehr ersetzt, und auf dem Kopf trägt er eine hübsche Kappe, an der ein fünfzackiger Stern prangt. Er ist Partisan.
Der Journalist, der, wie man entdeckt, aus Frankreich stammt, ist sehr beeindruckt von den Gewohnheiten und Bräuchen in Kaltra. Vor allem die Sache mit der Totenklage interessiert ihn sehr.
Deshalb bringen sie ihn zu Meliha, die in der Gegend eine der Besten ist. Der Franzose möchte sie interviewen. Aber er merkt, dass es mit dieser Frau nicht gerade einfach ist. Er versucht auf alle möglichen Arten, sie dazu zu bringen, eine Totenklage zu improvisieren, um sie auf Tonband aufzunehmen.
Nach diesem absurden Ansinnen würdigt Meliha ihn nicht einmal eines Blickes. Sie hält die Hände im Schoß. Die Stille wird nur durch das Klappern der Perlen ihrer Tesbih unterbrochen, die sie rasch durch die Finger gleiten lässt. Ihre Hände, jene Hände, die vier Söhne begraben, die ein Leben lang Brote geformt und aus dem Ofen gezogen haben, jene Hände, die schon bald den Fluss und die Berge in einer einzigen ewigen Umarmung umschließen werden, sie zittern.
»Ich kann den Tod nicht mehr anrufen. Der Tod hat schon genug genommen in diesem Haus, er hat sich an meinem Leib gesättigt.«
Nach ein paar Sekunden fügt sie hinzu:
»Außerdem, welchen Grund sollte es geben, ihn anzurufen? Er nähert sich gerade, ich spüre seine leichten Schritte, diesmal bin ich an der Reihe. Ist es nicht seltsam? Auf allen Beerdigungen, auf denen ich war, habe ich die Totenklage gesungen, bei meiner eigenen werde ich es nicht tun …«
Der Franzose ist unzufrieden. Er will wissen, ob Meliha bei der Beschreibung des Lebens und der Stärken des Verstorbenen einem Schema folgt, nach dem sie die Reime bildet, oder ob sie improvisiert.
»Dem geht’s wohl nicht gut«, sagt Meliha zu dem Dolmetscher. »Glaubt er, wir spielen Theater? Junge, wenn du die frische Erde siehst, die sich öffnet, um einen Teil deines Fleisches zu verschlingen, denkst du nicht an die Reime, es ist deine gequälte Seele, die dir die Worte in den Mund legt.«
»Aber es waren nicht alles Söhne oder Verwandte, denen Sie im Dorf die Totenklage gesungen haben«, beharrt der Franzose.
»So gut wie. Man ist schnell verwandt in einem kleinen abgeschiedenen Dorf wie dem unseren. Sehr schnell, glaub mir. Für mich beginnt und endet die Welt hier, für mich sind die Leute aus meinem Dorf alle Bewohner dieser Erde. Für mich gibt es nur einen Tod, jenen, der dir das Blut in den Adern stocken lässt und dir den Leib verdorrt, aus dem die Kinder kommen.«
Der Journalist wiederholt immerfort:
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