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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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aus ganz anderen Gründen als bei uns. Es handelte sich um eine wahre Begebenheit, die in den Vereinigten Staaten Kontroversen ausgelöst hatte, aber das konnten wir damals nicht wissen. Wenn der Punkt das unmoralische Betragen der Figuren war, überlegte ich, warum wurde dann ein armes Bauernmädchen wie Tess verboten, währen Emma Bovary ungehindert die Runde machen konnte? Ganz zu schweigen von Balzacs Kurtisanen. Warum sie nicht verboten wurden, blieb Regierungsgeheimnis.
    Nach dem Ende der vierten Volksschulklasse rief Papa mich zu sich, um das Programm für die Sommerferien festzulegen.
    »Komm her, Dora. Jetzt ist Schluss mit den albernen Spielen«, sagte er. »Wir wollen über deine kulturelle Bildung sprechen. Montags, mittwochs, freitags: Lektüre. Das ist dein neues Tagebuch. Jedes Buch, das du gelesen hast, wirst du auf diesen Seiten festhalten: Thema, Grundgedanken, Handlung, Erzählperspektive, Botschaft des Autors. Ah, ich habe die Figuren vergessen. Du musst sie analysieren, jede einzelne. Nicht dass du glaubst, du bräuchtest dich nur um die Hauptfiguren zu kümmern.«
    Der ist vollkommen verrückt, dachte ich.
    »Dienstags und samstags: zwanzig Partien Schach pro Tag«, fuhr Papa fort, »so aktivierst du deine grauen Zellen.«
    Hatte ich etwa vor, Wissenschaftlerin zu werden? Ich fand nicht den Mut, ihm zu widersprechen. Er reichte mir die Bücherliste: Don Quijote, Krieg und Frieden, Vater Goriot, Rot und Schwarz, Die Elenden, Der Idiot, Der brave Soldat Schwejk …
    Meine Freundinnen durften die ganzen Ferien über in aller Seelenruhe spielen, für mich begann dagegen die Sommerschule.
    Die Schachpartien waren das Schlimmste. Während ich mich in die Bücher hoffnungslos verliebte, eine Liebe, die immer noch anhält, war Schach ein Albtraum für mich. Papa hatte es schon zweimal zum Landesmeister gebracht. Solange ich noch seine Schülerin war, fand ich den Unterricht ganz amüsant, aber dann wurde ich »Spielerin«, Papas Gegnerin.
    »Wie kann man nur so dämlich sein, hast du keine Augen im Kopf? Das Pferd, mit diesem Zug verlierst du das Pferd. Der Turm, der Turm, siehst du nicht, dass die Dame nicht gedeckt ist?«
    Ich verlor vollkommen den Überblick, das Pferd galoppierte, die Dame würdigte mich keines Blickes.
    »Dummes Huhn, so bist du gleich schachmatt«, fuhr er fort. »Erst nachdenken, dann ziehen, streng dein Hirn an, was machst du denn da, oh nein …«
    Mit jedem seiner Sätze bewegte sich meine Hand verzagter.

Fünf
     
    Die Erziehung der Massen durch meinen Vater dauerte leider nicht lange. Anfangs schien alles gut zu laufen, aber das täuschte. Sollte er sich etwa für immer in eine Militärbasis zurückziehen, um den Seeleuten aus der Zeitung vorzulesen? Er hatte offenbar andere Pläne, von denen niemand in der Familie so genau wusste.
    »Was heißt hier Pläne«, schrie Großmutter Saba, »ich kenne seine Pläne. Dieser Kerl ist durch alle Lehrerbildungsanstalten des Landes gezogen, vom Norden bis zum Süden, er kann froh sein, dass er sein Diplom bekommen hat. Mit der Universität war’s genau das Gleiche, aber darüber will ich gar nicht erst reden …«
    Papa war wirklich durch alle Schulen des Landes gezogen, erst als Schüler, dann als Lehrer und Erzieher.
    Aus der Lehrerbildungsanstalt von Vlora hatte man ihn hinausgeworfen, weil der Leiter des Alumnats ihn beim nächtlichen Pokerspielen erwischt hatte. Es wurde nur er hinausgeworfen, auch wenn zum Pokern bekanntermaßen mehr als einer gehört. Während jedoch die anderen Jungen jammerten und reuevoll um Verzeihung baten, sah Papa, der daneben stand, dem Alumnatsleiter in die Augen und sagte:
    »Du hättest lieber zu Hause bleiben und deinen Bohneneintopf verdauen sollen, alter Kindskopf, anstatt uns heute Nacht hier auf die Eier zu gehen.«
    Rauswurf, und zwar sofort. Großmutter Saba hatte alle Ämter abgeklappert und immer wieder ihre vorbildliche Biografie hervorgekramt, aber der alte Kindskopf mit dem Bohneneintopf wollte nicht nachgeben. Raus und Schluss.
    Danach fand Papa einen Platz in Elbasan, aber aus irgendeinem Grund lief auch dort etwas schief. So war er schließlich in der Lehrerbildungsanstalt von Shkodra in Nordalbanien gelandet, um von dort aus, diesmal in umgekehrter Richtung, erneut die Runde zu drehen.
    Ganz zu schweigen von den Jahren, die er zu unser aller Freude, fernab von der Familie verbrachte.
    Nun war er wieder in seinen Wahn verfallen. Er hatte erfahren, dass an einem der Gymnasien von Vlora

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