Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
auf einer Bahre, in seinem besten Anzug, dem seiner beiden Hochzeiten. Der Raki hatte ihm geholfen, seine Figur über ein halbes Jahrhundert lang zu bewahren.
Am Abend der Aufführung konnte ich nichts essen. Ich hatte einen merkwürdigen Knoten im Hals, der weder runter- noch herausrutschen wollte. Es war die Traurigkeit, die wahre Traurigkeit. Kein noch so geglückter Tag hat es vermocht, mir dieses drückende Gefühl zu nehmen.
Dieselbe Traurigkeit wie auf dem Foto, das Papa ein Jahr zuvor geschossen hatte. Wir waren auf dem Fest in Kaltra, dem Befreiungsfest, zu dem alle als Partisanen verkleidet kamen. Ich stand zwischen Großmutter Saba und meiner Mutter.
»Kommt her, ich mach ein Foto von euch«, ruft mein Vater.
Wir stellen uns in Pose. Großmutter, ich in der Mitte, dann Mama.
»Nein«, beschwert sich Papa, »ich habe gesagt, sie mit dem Mädchen. Was hast du damit zu tun? Ich will ein Erinnerungsfoto für die beiden, sie ist schon alt. Diesmal ist sie noch dabei, aber wer weiß …«
Mama entfernt sich. Aber sie ist nicht schnell genug. Man hört das Klicken des Auslösers, und schon ist das Foto geschossen. Großmutter Saba, die ihren dünnen Arm um meine Schultern legt. Ich, die ganz woanders hinschaut. Ich sehe ihr hinterher, wie sie sich schweigend entfernt. Sie ist mit drauf. Ein Fuß, ein Arm und das rabenschwarze Haar, das über ein Auge fällt. Das Bild meiner Kindheit: Großmutter Saba, die mich umarmt, und meine Mutter, nur halb zu sehen.
Vier
Papa wurde zwar nach Vlora versetzt, aber nicht ans Gymnasium oder an eine andere Schule, wie alle geglaubt hatten, wo er doch eigentlich Lehrer war.
Papas neuer Arbeitsplatz befand sich in der Militärbasis von Pashaliman. Diese Geheimbasis mit ihrem so türkischen Namen war für uns alle ein Grund zum Stolz. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass der Wunsch, diese Basis zu bezwingen, allen Machthabern der Erde den Schlaf raubte. Denn, so sagte man uns, dieser Ort verband die Welten. Und wir Glücklichen lagen genau zwischen zwei Welten: dem Westen und dem Osten. Wir hatten uns jedoch aus freien Stücken für den Osten entschieden und jede Verbindung mit dem Westen abgeschnitten. Allerdings konnten sie uns jeden Moment angreifen. Wir mussten diese Basis also um jeden Preis verteidigen, damit die Welt nicht in die Hände der Kapitalisten und Imperialisten geriet.
Mein Vater konnte kein U-Boot steuern, er war immer Lehrer gewesen. Vielleicht, überlegte ich, musste er das Meer bewachen. Ich stellte ihn mir nachts mitten im Meer, in schwarzer Regenkleidung auf einem Wachboot vor. Plötzlich taucht ein feindliches Militärschiff auf. Sie fordern ihn auf, sich zu ergeben, das Land sei ohnehin verloren. Er willigt ein, steigt auf ihr Schiff und lässt sich dann in die Luft sprengen. Den Sprengstoff hatte er unter seinem Regenmantel versteckt. Alles steht in Flammen, die Feinde sterben. Papa wird ein Nationalheld, und ich, Mama und meine Geschwister weinen im Fernsehen. Das ganze Land weint für uns.
Aber Papa konnte nichts derart Heldenhaftes vollbringen. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, die Massen zu erziehen und zu belehren. Er musste zu den Seeleuten, Arbeitern, Wachtposten und all denen sprechen, die sich in der Basis befanden, er musste jeden Morgen einen Lagebericht und eine Presseschau liefern (was nicht weiter schwer war, da es damals nur eine einzige Tageszeitung – »Die Stimme des Volkes« – gab) und die politischen Ereignisse kommentieren, wobei er täglich wiederholte, dass ihre Kollegen in der Welt Hunger litten, aus Verzweiflung dem Alkohol verfielen und früher oder später in irgendeinem Hafen starben. Er hatte sein Auskommen gefunden, aber auch der Militärbasis hätte nichts Besseres passieren können.
Zu jener Zeit waren die Brüder aus China bereits abgezogen. Die Basis, die zunächst von den Russen und dann von den Chinesen kontrolliert war, gehörte nun uns allein.
Ich erinnere mich, dass Papa nach einigen Monaten immer mit einer prall gefüllten Ledertasche nach Hause kam. Dann tauchte plötzlich im Schlafzimmer meiner Eltern ein hohes, fast bis an die Decke reichendes Metallgerüst auf. Nach und nach füllte sich dieses kahle Metallgerüst mit Büchern. Nicht, dass wir noch keine Bücher gehabt hätten, meine Eltern waren beide Lehrer, aber die neuen Bücher waren anders. Auf jeden Fall glichen sie nicht den Werken von Enver Hoxha, die hatten wir alle: Mit ihrem glänzend roten Einband zierten sie die
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