Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
»St. Athanas«, das andere »St. Gjergji«. Wir zündeten Kerzen an, dann forderte sie mich auf, die Augen zu schließen und für die Gesundheit zu beten, für meine eigene und die der gesamten Familie.
»Mein Gott, das Einzige, worum ich dich bitte, ist die richtige Anzahl«, beendete sie ihre Andacht.
Mit der »richtigen Anzahl«, bezog sie sich auf die Zahl der Familienmitglieder. Sie bat mit anderen Worten darum, dass niemand starb.
Andere Male gingen wir zum Grab einer gewissen Derwischin Hatixhe. Wir zündeten Öllämpchen vor ihrem Foto an. Daneben legten wir Zucker, Kaffee und eine Flasche Raki. Und auch ein bisschen Geld, das die Derwische für die Armen verwenden sollten. Ich habe mir immer vorgestellt, dass sie sich, sobald wir gegangen waren, erheben würde, um sich unsere Geschenke zu nehmen. Und dass sie sich auf der Flamme des Öllämpchens, das wir brennen ließen, einen Kaffee kochte.
Am 23. August feierten wir gleich zwei Feste auf einmal. Das Marienfest und das Fest der Diana, der Göttin der Jagd. Niemand wusste, was die beiden miteinander zu tun hatten. Vielleicht feierte man sie zusammen, weil beide Frauen waren?
Aber das schönste Fest war Ostern. Großmutter Saba sammelte wochenlang Eier, legte sie beiseite und trat am Ostertag mit einem Korb voller roter und goldener Eier hinaus. Sie verschenkte sie an alle Nachbarn. Wenn du sie fragtest, was sie da feiert, wusste sie es selbst nicht so genau. Papa sagte ihr, dass sie mit den Festen der Christen nichts zu schaffen habe.
»Feste sind für alle da«, entgegnete sie, »vor allem für die Kinder. Und außerdem«, fuhr sie fort, »findest du es richtig, die Feste unserer Nachbarn, der Griechen, zu übergehen? Welchen Eindruck würde das machen …«
Die Moslems feierten dagegen Kurban Bajram, das Opferfest. Meistens wurde ein Lamm geschlachtet, aber weshalb, das konnte Großmutter nicht erklären. Letztlich handelte es sich um einen symbolischen Akt. Deshalb begab sich Großmutter Saba schon lange im Voraus auf die Suche nach einem besonders zarten Lamm, das dann für alle, ob Muslime oder nicht, über der Glut gegart wurde.
Um mich davon zu überzeugen, dass Moslems und Christen, Griechen oder Türken, letztlich dasselbe waren, erzählte mir Großmutter Saba die Geschichte eines der Brüder von Großvater Omer. Ihrer Meinung nach passten Pfarrer und Imame gut zusammen, sie waren nichts weiter als Kollegen, die sich oft sogar ihre Arbeit teilten.
Der besagte Bruder von Großvater Omer hatte in den 20er Jahren das Dorf verlassen und war an die Küste gezogen. Zunächst nur, um die eigene Haut zu retten: Er war mit der Tochter der Nachbarn durchgebrannt. Sie waren mitten in der Nacht geflohen und in jenem kleinen Dorf in der Nähe des Meeres gelandet. Die Familien hatten sich ausgesöhnt, aber die beiden wollten trotzdem nicht zurück. Sie mochten das Klima und die freundliche, heitere Art der Leute vor Ort. Sie ließen sich dort nieder und fühlten sich schon nach wenigen Jahren heimisch. Zusammen mit ihren fünf Kindern lebten sie glücklich und zufrieden. Großvater Omer und Großmutter Saba kamen zweimal im Jahr zu ihnen, um Olivenöl und Salz zu kaufen. Großmutter erinnerte sich voller Sehnsucht an jene Reisen. Solche Orangen wie dort hatte sie sonst nirgendwo gegessen, sagte sie. Alle waren freundlich, sogar der Pfarrer und seine Frau. Ja, denn es handelte sich um eine griechische, also christlich-orthodoxe Gegend. Die Leute waren ein bisschen kühler als bei uns, aber das machte nichts, erklärte Großmutter.
Eines Tages kam die furchtbare Nachricht, dass Großvaters Bruder gestorben war. An Husten, ganz unerwartet. Der Husten war einfach nicht verschwunden. Sie hatten alles probiert, hatten ihm das verdorbene Blut abgezapft, hatten den bösen Blick bekämpft, der Pfarrer war gekommen, um das Haus zu segnen, der Derwisch, um seine schamanischen Rituale zu begehen, und der Imam, um die Suren zu singen. Sie hatten sogar den Arzt aus der Stadt gerufen, aber vergeblich, am Ende war er gestorben.
Großvaters gesamte Familie fand sich zusammen, um den Toten zu beklagen und ihm ein gebührendes Begräbnis zu bereiten. In dem für die Frauen vorgesehenen Raum gaben sich diese ihrer Verzweiflung hin, im Raum für die Männer wurde Raki getrunken und Tabak geraucht. Sogar der Pfarrer kam, um der Familie sein Beileid zu bekunden. Ganz unerwartet zog ein Schneesturm auf. Das ganze Dorf war plötzlich eingeschneit, man hatte Mühe, aus dem
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