Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
Vom Netzwerk:
Bibliothek im Wohnzimmer. Einige Zeit später brachte ich Papas pralle Tasche mit dem Metallgerüst im Schlafzimmer in Verbindung. Von wegen Held, mein Vater war ein Dieb!
    Die Wahrheit ist, dass eines schönen Tages ein Inspektor vom Zentralkomitee der Partei in der Militärbasis erschien. Nachdem er mit Papa gesprochen und sich vergewissert hatte, dass die Massen bei ihm in guten Händen waren, beschloss er, auch einen Blick auf das Arbeitsmaterial zu werfen. Zuerst besichtigte er den Vorführraum und sah sich alle Filme an, die zur Erziehung der Massen gezeigt wurden. Dann führte Papa ihn in die Bibliothek. Als der Inspektor die riesigen Regale begutachtete, erblasste er.
    »Genosse Luan«, sagte er, »seit wann dienst du hier dem Vaterland?«
    »Seit ein paar Monaten, genauer gesagt seit dreien, verehrter Genosse Kujtim«, erwiderte Papa.
    »Und dir ist bisher nichts aufgefallen?«, begann der Inspektor erneut.
    »Schon«, gab Papa zur Antwort, »eine ganze Menge.« Er versuchte Zeit zu gewinnen und überlegte, worauf der andere hinauswollte. »Mir ist aufgefallen, mit welcher Begeisterung die Massen nach vorne schauen und den Imperialisten sowie den Verrätern des Sozialismus zeigen wollen, dass wir …«
    »Genosse Luan«, unterbrach ihn der Inspektor, »sieh dir das an.«
    Papa sah hin, ohne zunächst irgendetwas zu erkennen. Nachdem er jedoch die Buchtitel gelesen hatte, erblasste auch er. Er begriff, dass die Dinge nicht allzu gut für ihn standen. Aber während Genosse Kujtim ihm erklärte, dass dieser Mangel an Wachsamkeit die Massen teuer zu stehen kommen könnte, da der Feind immer dort zuschlägt, wo du es am wenigsten erwartest, versuchte Papa ausnahmsweise einmal, sein Hirn zu gebrauchen.
    »Genosse Kujtim, weißt du, wer vor mir diesen Posten hatte?«, fragte er. »Genosse Besim, der jetzt Parteisekretär im Kreis Berat ist.«
    »Stimmt. Ich kenne ihn, er ist der Schwager von Genosse Rimiz, Sekretär des Zentralkomitees der Partei. Vertrauenswürdig.«
    »So ist’s«, antwortete mein Vater. »Als ich vor drei Monaten hierherkam, habe ich sofort eine Bestandsaufnahme gemacht, um zu überprüfen, mit was man den Geist der Massen speiste. Diese Titel haben mir anfangs den Schlaf geraubt. Ich glaubte, es sei das Werk des Feindes, der niemals ruht und allgegenwärtig ist. Aber dann habe ich nachgerechnet. Genosse Kujtim, weißt du, in welchem Jahr wir uns befinden? Im Jahr 1978, diese Bücher wurden jedoch bereits 1974 verboten, nachdem man auf dem Plenum einige Minister des Verrats überführt hatte. Ich habe lange nachgedacht, aber dann habe ich mir gesagt: Luan, sei nicht so dumm zu glauben, Besim, einer der besten Parteikader, habe vier Jahre lang nicht bemerkt, dass hier etwas faul ist. Vier lange Jahre, verstehst du? Ich habe begriffen, dass ihm nichts davon entgangen ist. Nein, er hatte eine geniale Idee: Er wollte die Massen mit dem Feind bekannt machen. Durch diese Bücher können die Menschen lernen, welches Leben die weniger begünstigten Seeleute führen, die überall in den Häfen der Welt verstreut leben …«
    Vielleicht dachte Genosse Kujtim, dass es ihm nicht zustand, sich einem von der Parteispitze zu widersetzen. Zu Papa sagte er mit trockner Stimme, dass dieses Zeug innerhalb der nächsten Tage verschwinden oder vielmehr verbrannt werden müsse, und zwar unbemerkt.
    Armer Papa, schließlich konnte er nicht einfach einen Scheiterhaufen in der Militärbasis errichten. Die Massen sollten nicht denken, es gäbe irgendeine Form von Zensur. Er musste einen Weg finden, die Bücher außerhalb zu verbrennen. So hatte er einen Schweißer kommen lassen, der innerhalb weniger Tage im Schlafzimmer ein bis zur Decke reichendes, grauenhaftes Metallmonstrum aufbaute. Die für das Feuer bestimmten Werke befanden sich im oberen Teil, um an sie ranzukommen, musste man auf eine Leiter steigen, die ebenfalls aus Metall war.
    Ich habe in jenen Jahren alles gelesen. Je energischer meine Eltern mir ein Buch verboten, desto stärker war für mich der Reiz, es heimlich zu lesen. Ich erinnere mich noch gut an zwei Bücher, die zu dick und zu sperrig waren, um sie zu verstecken. Ich verstand nicht, warum sie verboten waren. Es handelte sich bloß um Geschichten. Eines war Tess von den d’Urbervilles von Thomas Hardy und das andere Das Genie von Theodore Dreiser, der auch Eine amerikanische Tragödie geschrieben hatte. Ich weiß, dass Letzteres bei seinem Erscheinen auch in Amerika für Aufsehen sorgte, aber

Weitere Kostenlose Bücher