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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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in Form eines Ms, hatte Großmutter Saba genäht: überall weiße Spitzenborte und rosarote Schleifen. Ich kam mir vor wie Prinzessin M, ja, ich wünschte mir, dass es eine Prinzessin mit diesem Namen geben möge. Oder eine Königin, warum nicht? In den Märchen, die mir gefielen, gab es viele Königinnen, aber sie waren alle Stiefmütter. Die Mutter starb immer gleich zu Beginn. Irgendwo auf der Welt musste es eine Königin geben, die gleichzeitig Mutter war, die nicht starb und die es würdig war, mein Kleid zu tragen.
    Unter Beifall und Musik betraten wir die Bühne. Ich wiederholte im Kopf ständig mein Gedicht. Es war der Mutter gewidmet, der Mutter Partei.
    Beim Anblick des Saals verspürte ich Angst. Ich hoffte, meine Familie nicht zu enttäuschen.
    Mein Einsatz kam, aber ich bewegte mich nicht von der Stelle. Die Kameradinnen hinter mir stießen mich vor. Ein Gefühl der Leere im Magen ließ mich begreifen, dass ich nicht für die Bühne geboren war.
    Der Anfang gelang gut, die Verse glitten mir über die Lippen wie die Honigpastillen, die Mama mir in den Mund steckte, wenn ich Halsweh hatte. Da ich mich allmählich sicherer fühlte, hob ich den Kopf, um mich umzusehen. Um sie, meine Mama Klementina zu suchen. Papa saß in der ersten Reihe. Neben ihm, aufrecht und stolz wie immer, Großmutter Saba. Ich spürte ihren durchdringenden Blick auf der Spitzenborte meines Buchstabenkostüms. Die dritte Reihe war von meinen Tanten in Beschlag genommen worden. Vielleicht hatte Mama sich verspätet. Vielleicht stand sie hinten im Saal. Ich suchte vergeblich nach ihrem rabenschwarzen Haar.
    Den Rest des Gedichts konnte ich nicht mehr aufsagen. Er war mir entflohen wie die Vögel, die vom Baum auffliegen, wenn die Kinder mit der Zwille nach ihnen schießen. Die Worte flatterten durcheinander, verfingen sich, verletzten Vögeln gleich, und fanden ihren Weg nicht mehr.
    Die Lehrerin half mir mit dem typischen Lächeln, das man Kindern entgegenbringt, die ihre Rolle vergessen haben. Ich kehrte auf meinen Platz zurück. Mein Vater sah mich nicht mehr an. Aber die blauen Augen neben ihm spürte ich noch immer auf mich gerichtet, als wollten mir diese Augen versichern, dass sie mir immer verzeihen würden.
    Nach der Aufführung schlossen alle meinen kleinen Körper in die Arme. Die Großmutter, die Tanten. Dann sah ich sie kommen. Sie rannte, keuchte, das schwarze Haar war in Unordnung geraten. Ihre Schritte wurden von einem gleichmäßigen metallischen Klappern begleitet, aber sie achtete nicht darauf. Es kam aus der großen Tasche, die sie hinter sich herschleifte. Das Geräusch aneinanderschlagender Kochtöpfe.
    »Wieso kommst du so spät?«, fragte Papa.
    »Die Krankenschwester hat mich nicht reingelassen«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.
    »Wie ist es gelaufen, mein Schatz?«, wandte sie sich mit ihrem verlorenen Lächeln an mich.
    Ich wollte nicht antworten. Ich wollte mich nur an ihre Brust schmiegen, den herben Geruch ihres schweißüberströmten Busens in mich aufnehmen.
    Ich wusste, wo sie gewesen war. Ich hatte das Gespräch zwischen ihr und Papa belauscht, als ich mich für die Aufführung bereit machte.
    An jenem Nachmittag, einige Tage vor Großvater Omers Tod, hatte ich Papa zu Mama sagen hören:
    »Was? Du willst eine alte Frau allein ins Krankenhaus schicken? Am Tag der Aufführung ihrer Lieblingsenkelin? Wenn du es machst, geht’s schneller, oder? Du bringst meinem Vater das Abendessen und kannst dir danach die Aufführung des Mädchens anschauen. Am besten, du gehst etwas eher los und bittest die Krankenschwester, dich reinzulassen, du kannst ihr ja ein Trinkgeld geben, es ist nichts dabei …«
    »Kannst du nicht gehen? Oder jemand anderes …«, wagte meine Mutter einzuwenden.
    »Ich?!« Nach dieser Antwort war Mama in die Küche gegangen, um die Töpfe mit Großvaters Abendessen bereitzustellen. Er bekam alle Mahlzeiten von zu Hause gebracht, für die Familie wäre es eine Schande gewesen, Großvater das Krankenhausessen zuzumuten. Er hatte schließlich nicht sechs Kinder in die Welt gesetzt, um sich am Ende von diesen dünnen Brühen zu ernähren. Sechs Kinder, aber die Einzige, die zweimal am Tag unter dem schrägen Geklimper der Töpfe die Stadt durchquerte, war meine Mutter. Abgesehen von den Sonntagen, an denen alle Tanten gemeinsam mit fünf verschiedenen Topfsets voller Leckereien zu ihm gingen.
    Großvater Omer lag seit Wochen im Krankenhaus. Noch wenige Tage, und er würde entlassen werden,

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