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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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Versprechen an die Mutter zu halten, und bringt ihr auf dem Pferd die Schwester zurück, die zum Heiraten in die Fremde gegangen war. In den Volksüberlieferungen meines Landes gibt es unzählige Helden, die ihre Taten aus dem Jenseits begehen.
    Großmutter Saba gestaltete ihre Balladen auch ohne Helden lebendig. Mit der Zeit wurde das, was sie den toten Brüdern zu erzählen hatte, immer umfangreicher und immer komplizierter. Großmutter berichtete über alles, was sie verpasst hatten, weil sie ihre Söhne nicht hatten aufwachsen sehen, aber auch über das, was ihnen erspart geblieben war, weil sie anderes nicht gesehen hatten. Manchmal sprach sie über den Wechsel der Jahreszeiten aus der Sicht dieses anderen Teils der Erde, denn vielleicht spürten sie dort unten Sehnsucht danach. Das Geräusch des Herbstregens auf den roten Dachziegeln und die weißen, nach Aschenlauge duftenden Laken, die im warmen Sommerwind flatterten, während sie im Hof zum Trocknen hingen.
    In den ersten Jahren nach dem Krieg war sie froh, dass alle an ihre Brüder dachten und diesen Tag ihrem Andenken widmeten. Sie hatte nun einen weiteren Tag für ihre Totenklagen. Insgesamt waren es fünf Tage im Jahr: jeder ihrer Geburtstage, der Todestag und der fünfte Mai.
    Aber zu Beginn der Siebzigerjahre beschloss die Partei, die Überreste der für das Vaterland Gefallenen zu exhumieren. Man wollte einen neuen Friedhof schaffen, eigens für sie: den Heldenfriedhof.
    Großmutter Saba konnte es zunächst kaum fassen. Nach beinahe zwanzig Jahren die Überreste umbetten? Ihre Brüder lagen doch gut dort, wo sie lagen, neben der Mutter, dem Vater und allen Vorfahren. Was hatte ein neuer Friedhof für einen Sinn? Neue Gräber zu schaufeln und die alten wie die Mäuler ausgehungerter, gieriger Bestien zurückzulassen, war ein Vorhaben, das unter schlechtem Vorzeichen stand, es konnte nur Unglück bringen.
    An dem Tag, an dem die Gräber der Brüder geöffnet wurden, wollte Großmutter Saba dabei sein, aber sie sprach mit niemandem und sah niemanden an. Nicht einmal die Frauen und Kinder der Brüder, die aus der Hauptstadt gekommen waren, alle stolz, lächelnd und bunt gekleidet. Es war der erste bunte Trauerzug, der seinen Weg zum Friedhof nahm, bisher waren alle Trauerzüge in Kaltra schwarz gewesen. Großmutter Saba wusste aus Erfahrung, dass die Hauptstadt alle Menschen verändert, aber gleich dermaßen? Sie waren es gewesen, die die formale Einwilligung zur Exhumierung gegeben hatten. Großmutter Saba hatte kaum noch Kontakt mit ihnen. Nach dem Krieg waren sie alle in die Hauptstadt gezogen. Die Partei hatte sich um die Ausbildung der Kinder und um eine gute Arbeit für die Frauen gekümmert. Sie hatten Fortbildungskurse besucht, sich emanzipiert und waren nun ganz andere Menschen. Eine von ihnen hatte sogar wieder geheiratet, den Generaldirektor der Post- und Telekommunikationsgesellschaft. Auch er anwesend und lächelnd wie alle anderen.
    Großmutter Saba ließ nicht zu, dass irgendjemand die Überreste der Verstorbenen berührte. Das war nicht weiter problematisch, niemand legte großen Wert darauf. Bei den ersten Spatenhieben auf dem Marmor wandte sie den Blick zum Grab der Mutter. Plötzlich zog ein starker Wind auf, Großmutter bemerkte nicht, dass ihr schwarzes Kopftuch davonflog. Es flatterte in der Luft, wie der verletzte Flügel eines zum Flug ansetzenden Vogels.
    Nach diesem Windstoß, der wie eine Welle über ihren Kopf hinweggegangen war, hingen ihr die Zöpfe unbedeckt auf die Schultern. Sie stieg in das erste Grab hinab. Ihre Hände tasteten nach jedem einzelnen Knochen. Sie zog sie hervor, reinigte sie mit der Bürste, die ihr die Arbeiter gegeben hatten, vom Staub, und legte sie dann in die rote Holzkiste neben sich. Keinen Augenblick lang unterbrach sie ihre kraftvolle Totenklage.
    Viermal hintereinander wiederholte sie dieselben Gesten, dieselben Worte. Im vierten Grab verweilte sie etwas länger. Um auch die winzig kleinen Knochen ihres nie geborenen Neffen einzusammeln.
    Dann streckte sie einer ihrer Schwägerinnen die geschlossene Faust entgegen. Das Gold des Traurings war das Einzige, was an diesem unheilvollen Tag glänzte. Der anderen Schwägerin, die wieder geheiratet hatte, gab sie nichts. Großmutter hatte sich den Trauring an den eigenen Finger gesteckt.
    Der Trauerzug begab sich nun zum anderen Ende des Dorfes. Der neue Friedhof wartete darauf, mit den ihm zugedachten Bewohnern bevölkert zu werden. In der neuen

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