Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
stapelten sich Unmengen von Grußkarten (damals verschickte man nur zu Silvester Karten) und Briefe aus den Studientagen. Ich nahm eine Karte, die so klein war wie ein Foto. In Schwarz-Weiß. Unter der Aufschrift »Neujahrswünsche 1960« befand sich, von einem Herzchen umrahmt, das wunderbar lächelnde Gesicht einer Frau mit langem Haar und großen Augen. Darunter in Kursivschrift der Name Brigitte Bardot. Ich nahm die Karte mit zu meinen Cousinen, um ihnen zu zeigen, welche Schätze sich bei uns zu Hause fanden. Damals wusste ich nicht einmal, wer Brigitte Bardot war, aber ich war stolz, Fotos von ausländischen Schönheiten zu besitzen. Ich zeigte die Karte. Schweigen. Alle rissen die Münder auf. Schließlich meinte Enkela:
»Fotos besagen überhaupt nichts. Auf Fotos sind wir alle schön. Aber in Wirklichkeit …«
Enkela, die es gar nicht hatte erwarten können, fing mal wieder mit ihren Kambodschanerinnen an. Ich hatte bis dahin noch nie eine Kambodschanerin gesehen. Lange Zeit stellte ich sie mir groß, sehr groß, mit schneeweißer Haut, langem, goldblondem Haar, Augen so »groß wie Kaffeetassen« und so dunkel wie Oliven vor. Einige hatten aber auch blaue Augen. Die Augenbrauen glichen »Schwalbenflügeln«, die Münder blühenden Rosen. Sie waren immer gut gekleidet und geschminkt: richtige Prinzessinnen. Aber meine Cousine hatte auch die Frauen aus Bukarest gesehen, wo sie während der Rückreise ein paar Tage Aufenthalt gehabt hatten. Die Frauen aus Bukarest waren noch schöner als die Kambodschanerinnen. Sie hatten rabenschwarzes Haar, mandelförmige Augen, glatte, bernsteinfarbene Haut und trugen ausladende Hüte auf dem Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen. Sie fuhren immer mit dem Fahrrad herum.
Um auszudrücken, dass eine Frau schön sei, sagte meine Cousine immer, sie sähe aus wie eine »Ausländerin«. Ausländerinnen waren alle schön. Zu mir sagte sie das nie. Ich sollte später noch ein ganzes Leben lang »Ausländerin« zu hören bekommen.
Zehn
Die einzige Person, der unsere Gespräche über die Schönheiten dieser Welt absolut missfielen, war meine Tante Adelina. Tante Adelina lebte bei uns, sie hatte keinen Mann abbekommen. Es spielte keine Rolle, dass sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war, sie hatte keinen Mann abbekommen und fertig. In den Augen der Großmutter und der anderen Tanten hätte sie schon längst verheiratet sein müssen, aber offenbar meinte es das Schicksal nicht gut mit ihr. Und auch nicht mit mir. In jener Zeit hatte ich gleich drei Mütter: Neben Großmutter und Mama war sie die dritte. Sie war immer verärgert und regte sich über alles in der Welt auf. Nach der Oberschule war sie nicht zur Universität zugelassen worden. Sie hatte den Antrag gestellt, aber während der zuständigen Regionalversammlung der Partei hatte einer die Hand gehoben und gesagt:
»Liebe Genossen, es stimmt, dass es sich um eine Familie mit makelloser Biografie handelt, aber wir wollen es nicht übertreiben. Fünf von ihnen durften schon an die Universität. Sie dienen dem Vaterland mit dem Stuhl unterm Hintern. Soll denn keiner von ihnen Basisarbeit leisten?«
So war Tante Adelina leer ausgegangen. Man schickte sie zum Arbeiten in einen Landwirtschaftsbetrieb, und sie verfluchte nunmehr alles und jeden: die Vorarbeiterin, mit der sie sich absolut nicht verstand, die Erde, die sie im Regen umgraben musste, Großmutters Fruchtbarkeit, die ihr sechs Kinder beschert hatte, und das Schicksal, das sie selbst als sechstes hatte auf die Welt kommen lassen.
Papa, der nach dem Tod seines Vaters zum Familienoberhaupt wurde (auch wenn Großvater es im Grunde nie gewesen war, bei all dem Raki, mit dem er zu schaffen hatte), wusste nicht, wie er die Schwester unter die Haube bringen sollte. Die wenigen Männer, die um ihre Hand anhielten, waren entweder Arbeiter oder Mechaniker in irgendeiner Fabrik. Das haben alle Länder, ob Diktatur oder Demokratie, gemeinsam, dass sich nämlich kaum je ein Arzt um eine Frau bemühen wird, die Erde umgräbt.
»Nun gut, das mit der Universität ist so gelaufen wie es ist, aber wir müssen wenigstens einen Weg finden, sie vor der Drecksarbeit zu bewahren«, beharrte Großmutter.
Nachdem Papa lange darüber nachgedacht hatte, kam ihm schließlich die Idee, sie einen Fortbildungskurs besuchen und etwas anderes als Ackerbau lernen zu lassen. Zum Beispiel Köchin oder Bäckerin oder auch Friseuse. Aber selbst für diese Kurse brauchte man die Genehmigung der
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