Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
könnte.
Dachte einer der Anwesenden anders darüber? Genosse Fari war derselben Auffassung wie Genossin Vera, ebenso Genosse Tafil.
Dann kam die Reihe an Genossin Lena, die noch etwas Eigenes hinzufügen wollte:
»Haben unsere Helden etwa ihr Blut fürs Vaterland vergossen, damit die Kinder von Bürgerlichen und Kapitalisten zu Köchen ausgebildet werden?«
Nach einer kurzen Pause schlug Genossin Lena einen beinahe mütterlichen Ton an:
»Außerdem ist Genossin Adelina nicht gerade eine Schönheit, und bei der Arbeit, die sie hat, will sie eh keiner nehmen. Auf diese Weise wird sie wenigstens einen Mann finden.«
Genosse Kosma, der kein Geschenk erhalten hatte, weil Papa ihn vermutlich für das letzte Rad im Getriebe hielt, erhob sich entrüstet:
»Genossin Lena, lassen wir diese kapitalistisch anmutenden Reden, wir sind hier, um den neuen Menschen und seine Fähigkeiten zum Aufbau des Sozialismus zu beurteilen …« Wie es schien, hing der Aufbau des Sozialismus davon ab, ob die Tante Köchin wurde oder nicht.
Zur Freude aller, mich selbst inbegriffen, ging Tante Adelina in die Hauptstadt, um dort ihren Wunschberuf zu erlernen. Alle Kurse zur Ausbildung des Menschen der »neuen Gesellschaft« fanden in der Hauptstadt statt. Nach einem Jahr kehrte die Tante nach Vlora zurück, um dem Vaterland in der Kantine einer Fabrik zu dienen, die Ersatzteile für Schiffe herstellte. Wenig später heiratete sie.
Elf
Tante Adelina war nicht die Einzige aus der Verwandtschaft, der daran lag, ihre Abstammung aus einer Familie von Nationalhelden an die Öffentlichkeit zu tragen, und die darauf hoffte, ihre Vorteile daraus zu ziehen. Wenn auch, das muss man zugeben, für eine edle Sache: das Kochen in den Arbeiterkantinen.
Von Papa habe ich bereits erzählt. Vielleicht handelte er in gutem Glauben: Man war es den zukünftigen Generationen schließlich schuldig, das Andenken lebendig zu halten. Abgesehen von diesen Beweggründen führte er auch sonst häufig den Familienstammbaum an. Zum Beispiel wenn er aus den abenteuerlichsten Gründen versuchte, eine Verlegung des Arbeitsplatzes zu bewirken, oder wenn es darum ging, die Wohnung zu wechseln, weil die Sonne am Nachmittag nicht genug hereinschien. Oder auch als er den Antrag für den Fernseher, den Kühlschrank und die Waschmaschine stellte. Zwar war der Zusammenhang zwischen Haushaltsgeräten und Heldentod nicht ganz klar, aber was soll’s.
Auch ich profitierte im Kleinen von unserer Vergangenheit. Mein großer Augenblick kam im Frühling, genauer gesagt im Mai. Am fünften Mai wurde mit einem Nationalfeiertag der Helden gedacht, die während des Zweiten Weltkrieges oder, wie es bei uns hieß, während des nationalen Befreiungskrieges gefallen waren. Ein wahres Fest für alle. Wir hatten schulfrei. Es gab eine große Gedenkfeier. Auf dem Friedhof hielt ein Parteisekretär, der eigens aus Tirana angereist war, eine Rede, Kränze wurden niedergelegt, und am Schluss gab es eine Aufführung. Wir, die Pioniere des Sozialismus, die Blüten des neuen Lebens, mit blauem Rock oder blauer Hose, weißem Hemd und rotem Uniformtuch um den Hals, bereiteten uns monatelang auf dieses Ereignis vor.
Ich musste den Chor dirigieren, solo singen und Gedichte aufsagen. Ich war, mit anderen Worten, die Protagonistin. Ich lächelte den Freundinnen in den Chorreihen mit dem geschäftigen Lächeln desjenigen zu, der auf allzu viele Dinge gleichzeitig achtgeben muss. Ich hatte mir schließlich nicht ausgesucht, zu einer Heldenfamilie zu gehören.
Es war wirklich ein schöner Tag, aber es gab einen Schatten, der ihn überdeckte. Großmutter Saba sah mir nicht zu, sie nahm nicht an der Feier teil. Am fünften Mai ging sie keinen Schritt vor die Tür. Vormittags blieb sie allein, froh, sich in aller Ruhe ihren Totenklagen widmen zu können. Klagen, mit denen sie nie aufgehört hatte ihre Brüder zu bedenken. Klagen, die sich von Mal zu Mal veränderten.
Im Lauf der Jahre waren diese Klagen zu Balladen geworden, zu ungewöhnlichen Balladen ohne Helden. Eine Ballade, in der der Held fehlt, scheint bedenklich zu sein, insbesondere in einer Kultur, in der es vor Balladen-Helden nur so wimmelt. Der Held unserer Balladen erhebt sich nach neun Jahren mit neun Wunden auf dem Körper von seinem Lager, um die Ehre der Schwester zu retten, dann stirbt er in ihren Armen, nachdem er den Thronräuber niedergestreckt hat. Der Held unserer Balladen steht nach drei Jahren wieder aus dem Grab auf, um das
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