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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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Tirana. Vor Tante Afroditas Wohnungstür zögerte Großmutter einen kurzen Moment, dann klopfte sie. Uns wurde sofort geöffnet.
    Die kleine Kaltra erfüllte die gesamte Wohnung mit ihrem Weinen, ihrem Gestrampel und ihrem Duft. Tante Afroditas Hände zitterten jedes Mal, wenn sie sie auf den Arm nehmen musste.
    »Ich habe es schon immer gewusst«, sagte Großmutter Saba später zu mir, »es gibt jemanden, der über uns wacht und die Dinge in Ordnung bringt. Wer hätte gedacht, dass Afrodita eine zweite Chance bekommen würde.«
    Großmutter schlief bei Leyla im Zimmer. Sie unterhielten sich die ganze Nacht lang. Tante Afrodita sank abends, erschöpft von ihren Tagen mit Kaltra, immer gleich ins Bett.
    Leyla sprach mit Großmutter Saba über viele Dinge. Auch von jener seltsamen Flucht im Nachthemd erzählte sie.
    »Ich weiß nicht, Tante, ich war damals einfach außer mir. Natürlich dachte ich viel an Sadeq, aber auch daran, dass letztlich alles an mir hängen bleiben würde. Er hat’s leicht, sagte ich mir, sie haben ihn ins Flugzeug gesetzt und dorthin zurückgebracht, wo er herkommt. Er wird ein paar Monate lang leiden, dann wird er von vorne beginnen, als hätte es mich nie gegeben. Ich dagegen? Was sollte aus mir werden mit einem schwarzen Kind? So bin ich eines Morgens aufgestanden und wie eine Schlafwandlerin ins Krankenhaus gegangen. Du weißt schon, dieses Krankenhaus …« Es schien, als würde Leyla mit sich selbst reden. Ihre leise Stimme zitterte. »Aber ich habe es nicht fertiggebracht, Tante Saba. Ich sah die Krankenschwester auf mich zukommen und habe mit einem Mal die Last meines eigenen Fleisches gespürt. Ich spürte die ausgestreckten, leeren Hände, die sich mit heller Erde füllten, ich kann es dir nicht erklären …«
    Großmutter Saba unterbrach sie nicht. Sie wusste, dass Leyla das Bedürfnis hatte, über jenen Tag zu sprechen, sich von dem Schuldgefühl zu befreien, das in ihr aufkam, sobald sie die Tochter ansah, weil es einen Tag, wenn auch nur einen einzigen Tag in ihrem Leben gegeben hatte, an dem sie daran gedacht hatte, sie nicht zur Welt zu bringen.
    »Ich bin im Nachthemd aus dem Krankenhaus gegangen«, fuhr Leyla fort. »Plötzlich stand ich vor der Ehtem-Bey-Moschee und verspürte den Drang, hineinzugehen und zu beten, einfach nur zu beten. Dann fiel mir ein, dass sie zwar nach außen hin wie eine Moschee aussieht, aber von innen ein Museum ist. Schade, dachte ich, schade.«
    Leylas Liebe zu ihrem »anders gearteten« Kind hatte für alle etwas Heldenhaftes.
    »Ach ja«, sagte mein Vater, »aber es ist nicht das einzige Beispiel in unserer Familie. Erinnert ihr euch noch an Tante Bedena?«
    Während Großmutter Saba, wenn von Tante Esma die Rede war, einen traurigen und düsteren Ausdruck annahm, verwandelte sie sich zu Stein, sobald man Tante Bedena erwähnte. Es waren mein Vater und die übrigen Verwandten, die in ihr die Mutter Courage sahen. Großmutter sagte nichts dazu, um meinem Vater nicht zu widersprechen, oder vielleicht auch nur, um das Ansehen der verstorbenen Schwester nicht zu verletzen.
    Tante Bedena war einen Monat nach ihrer Tochter Atika gestorben. Ich weiß über sie nur das, was man mir erzählt hat: Dass sie eines Tages von der Klinik kamen, um ihr die schwachsinnige Tochter wegzunehmen.
    Seit man Atika eingewiesen hatte, verging keine Woche, in der Tante Bedena nicht in die Stadt fuhr, um sie zu besuchen. Anfangs war das nicht so schwer, weil sie nur nach Vlora musste, aber dann wurde alles komplizierter: Mit der Entstehung von Fachkliniken hatte man Atika nach Elbasan verlegt. Aber Tante Bedena besuchte sie weiterhin. Jeden Freitag begab sie sich auf die Reise und kam erst montags zurück, immer mit der gleichen, mit Kreuzstich bestickten schwarzen Tasche, in der sie eine Flasche Dhallë mitnahm, das Lieblingsgetränk ihrer Tochter, das es in anderen Teilen des Landes nicht gab.
    Die ersten Male erkannte Atika, die mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt war, sie nicht einmal. Bedena fand sie in ihrem Metallgitterbett vor, die Stoffpuppen an sich gepresst. Die blauen Augen starrten ins Leere, aber ihre Hände bewegten sich auf unverwechselbare Weise, eine Bewegung, die entfernt an ein Streicheln erinnerte. Nach einiger Zeit gewöhnte sich Atika an die häufige Gegenwart der Mutter. Vielleicht erinnerte sie sich noch an irgendetwas aus ihrer Kindheit. Medikamente können nicht eine ganze Vergangenheit auslöschen.

Achtzehn
     
    Ein Samstagnachmittag mit dem

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