Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
man uns mit, dass sich der Vater einer Klassenkameradin das Leben genommen hatte – durch einen Schuss in den Mund. Keiner von uns durfte zur Beerdigung. Suizid galt es zu bekämpfen, ein derart feiger Akt wurde von der Partei nicht geduldet.
Violas Vater hatte in der Fabrikküche gestohlen. Jede Woche fehlten ein paar Dosen Bohnen, Tomaten oder Marmelade. Er hatte sich am Gemeinschaftseigentum vergriffen. Sein Vorgesetzter hatte es bemerkt und ihn am Samstagabend auf frischer Tat ertappt.
»Klassenfeind«, schrie er ihn an, »ich werde sofort den Parteisekretär verständigen, du bist entlarvt. Du wirst ihm alles gestehen, und am Montag berufen wir eine außerordentliche Versammlung der revolutionären Arbeiterschaft ein. Wenn du nicht ins Gefängnis wanderst, kannst du zumindest deine Koffer packen und mit deiner Familie die Felder umgraben gehen. Man wird dich internieren, damit du begreifst, was es heißt, unsere Gesellschaft zu bestehlen.«
Violas Vater wartete die für den Montag geplante Versammlung nicht mehr ab. Noch am selben Abend nahm er sich mit einem Pistolenschuss das Leben.
Der Leichenzug bestand nur aus Viola, der Mutter, der Schwester und dem Bruder. Sonst nahm niemand daran teil.
Am Mittwoch kam Viola wieder zur Schule. Sie hatte Angst, für immer alleine sitzen zu müssen, sie dachte, dass keiner mehr mit ihr sprechen würde. Stattdessen lief alles weiter wie bisher: Wir verbrachten gemeinsam die Pausen und teilten uns das Pausenbrot. Ich erzählte ihr von meinem Abenteuer mit dem Maler. Letztlich war es eine Geschichte, die uns alle drei betraf: mich, sie und den Maler.
Natürlich bin ich nie wieder zu ihm gegangen.
Neunzehn
»Ich möchte, dass du diese Truhe nimmst, wenn ich nicht mehr bin«, sagte Großmutter Saba zu mir. »Sie ist mir wichtig. Sie gehörte meiner Schwester, die früh gestorben ist. Meine restlichen Sachen könnt ihr ruhig weggeben oder verbrennen.«
Großmutter öffnete die große Truhe, und Quittenduft erfüllte den Raum. Sie nahm eine kleine, mit Kreuzstich bestickte Tasche heraus und löste den schwarzen Riemen. Vorsichtig faltete sie einen feinen roten Schleier auseinander, in den zwei lange, goldene, mit roten Steinen verzierte Ohrringe gewickelt waren.
Mir blieb vor Staunen der Mund offen. Es waren Zeiten, in denen man außer ein paar Eheringen nicht allzu viel Schmuck zu sehen bekam.
»Es ist das einzige Stück, das mir noch geblieben ist«, sagte Großmutter. »Während des Krieges habe ich sehr viel Schmuck verkauft, aus dem Rest habe ich die Eheringe für meine sechs Kinder machen lassen. Wenn man bedenkt, dass meine Mutter von oben bis unten mit Gold behängt war. Aber es waren andere Zeiten.«
Großmutter betrachtete die Ohrringe mit sehnsüchtigem Blick, sanft strich sie über die baumelnden Steine, als wolle sie sich vergewissern, ob es immer noch dieselben waren. Dann streckte sie mir die Hand entgegen.
Ich konnte es kaum fassen, sie wollte sie mir schenken.
»Nein, Großmutter, das kann ich nicht annehmen, wirklich nicht«, hauchte ich.
»Du musst«, erwiderte sie. »Ich habe sie ein Leben lang aufgehoben, ohne sie je zu tragen. Ich konnte nicht, aber du kannst. Sie haben eine Generation übersprungen, der Zauber, der sie verschlossen hielt, ist vorbei, endgültig vorbei …«
»Waren es deine, Großmutter?«, fragte ich.
»Nein, sie gehörten einer jungen Braut, die keine Zeit hatte, mit ihnen zu prunken, weil sie gestorben ist.«
»Einer Braut, Großmutter. Aber ich habe noch nicht vor zu heiraten, ich geh nur an die Uni. Gib sie mir, wenn es so weit ist.«
»Zu meiner Zeit gingen die Mädchen nur einmal von zu Hause fort und auch nur aus einem Grund: um zu heiraten. Die Zeiten haben sich geändert, für dich ist der Augenblick gekommen. Außerdem, wer weiß, ob ich bei deiner Hochzeit dabei bin, vielleicht sterbe ich vorher, oder du heiratest so weit weg, dass ich, hinfällig wie ich bin, nicht kommen kann.«
Jahre später, am Tag meiner Hochzeit, sollte ich mich an diese Worte erinnern. Großmutter Saba konnte nicht kommen. Sie litt an der Krankheit, die alle Frauen unserer Familie befällt: Ihr Kopf spielte nicht mehr mit. Außerdem fand meine Hochzeitsfeier tatsächlich auf der anderen Seite des Meeres statt.
In jener Nacht, der Nacht bevor ich mein Elternhaus verließ, um an die Universität zu gehen, tat ich kein Auge zu. Als ich am nächsten Morgen aufstand, sah ich blass aus, käseweiß. Meine Wangen waren feucht wie
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