Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
typischen Provinzbeigeschmack. Meine Freundin Viola und ich schlenderten durch das Viertel in der Hoffnung, ein paar Kameradinnen zu finden. Nirgendwo eine Menschenseele.
Violas Eltern sprachen nie Verbote aus oder machten Vorschriften, Viola konnte tun und lassen, was sie wollte. Die Eltern lachten bloß, das war alles. Sie arbeiteten in einer Fabrik, die Farben und Lacke produzierte, die beiden wirkten immer betrunken. Aber sie tranken nichts außer der Milch, die ihnen als Gegenmittel für all das eingeatmete Gift von der Fabrik bereitgestellt wurde.
Ich lebte an jenem Tag ganz ins Blaue hinein, da meine Eltern zu einer Hochzeit in einer anderen Stadt gefahren waren. Sie würden erst am Montag zurückkommen. Wir standen unter der Obhut von Großmutter Saba, die die meiste Zeit mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt war. Es war ein Tag ganz ohne Zwänge und Vorschriften, ein Wochenende, wie ich es nur selten erlebte.
Viola und ich beschlossen, in den Kulturpalast zu gehen. Dort gab es immer irgendwelche Veranstaltungen: ein Konzert der revolutionären Arbeiterschaft des Zementwerkes, ein Theaterstück der revolutionären Altengruppe oder eine mehrstimmige Gesangsdarbietung der revolutionären Frauen einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.
Wir hatten jedoch Pech, an jenem Tag wurde nichts geboten. Als wir hinauskamen, sahen wir einige Plakate, die für die Ausstellung eines jungen Malers warben (kein Revolutionär, zumindest stand nirgendwo etwas davon). Wir beschlossen hinzugehen, Viola hatte offenbar nicht ganz begriffen, worum es sich handelte.
»Vielleicht macht er ein Gratisfoto von uns«, meinte sie.
»Er ist kein Fotograf, sondern Maler«, erklärte ich.
»Wo ist da der Unterschied?«, entgegnete sie. »Ob so oder so, er kann uns auf jeden Fall ein Gratisporträt machen.«
Der Maler hatte vor Kurzem sein Studium an der Akademie der Schönen Künste in Tirana abgeschlossen und war nun zum Arbeiten in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Er hatte tiefblaue Augen und war sehr schüchtern. Seine Stimme zitterte: Das hier, sagte er, sei seine erste, nur ihm gewidmete Ausstellung. Er erläuterte seine Werke mit vielen Gesten, und oft errötete er. Das Publikum folgte ihm still von einem Bild zum nächsten, ohne Fragen zu stellen. Das schweigende Publikum, das aus Viola, mir und dem mit der Organisation der Ausstellung beauftragten Mitarbeiter des Kulturpalastes bestand.
Später blieben Viola und ich mit dem Maler allein. Auf einem Tisch sah ich ein aufgeschlagenes Heft und einen Stift liegen. Ich beschloss, die Ausstellung zu kommentieren, die Heftseiten sollten nicht weiß bleiben.
»Machst du ein Porträt von mir?«, hörte ich Viola fragen.
Der Maler war ein bisschen verlegen, dann lächelte er.
»Warum nicht?«, gab er zur Antwort.
Er nahm ein weißes Blatt sowie einen Bleistift, und nach wenigen Minuten war die Zeichnung mit Violas markantem Profil fertig.
»Aber ich wollte eigentlich ein echtes, ein echtes Gemälde, so wie die, die an den Wänden hängen«, sagte Viola unzufrieden.
»Ein andermal gern, heute habe ich nichts dabei, keine Ölfarben, keine Leinwand und was man sonst noch braucht.«
Ich schrieb immer noch. Ich füllte Seite um Seite, denn ich wollte einen guten Eindruck hinterlassen. Außerdem wollte ich den Maler trösten.
Es fiel mir nicht schwer, über Malerei zu schreiben. Mein Vater hatte mir eine Reihe von Biografien über berühmte Maler geschenkt: Van Gogh, Goya, Rembrandt und eine Anthologie mit Werken von Van Eyck, Leonardo da Vinci, Pieter Bruegel dem Älteren, Rubens …
Ich trug ziemlich dick auf. Der junge Maler stellte das Leben auf dem Land dar, also rief ich Bruegel den Älteren auf den Plan. Ich schrieb grauenhafte Sätze wie: »Ich bin tief beeindruckt, da uns der Maler, einem echten albanischen Bruegel gleich, das Landleben und das immerwährende Band zwischen den Bauern und der Erde beschreibt.« Ich wählte Bruegel, weil ich gelesen hatte, dass er der einzige flämische Maler war, der nicht im Auftrag der Kirche gearbeitet hatte, und für seine dämonischen Gemälde sogar »der Teufel« genannt wurde. Er war, mit anderen Worten, ein echter Revolutionär.
Als der Maler las, was ich geschrieben hatte, lächelte er.
Es war bereits spät, wir mussten gehen.
»Komm morgen wieder«, sagte er zu mir, »dann male ich ein richtiges Portrait für dich.«
Als wir draußen waren, beschwerte sich Viola, die ihre Zeichnung sorgfältig
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