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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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um seine Schuhe zuzubinden. Er fluchte und ging weiter.
    Der Schatten auf der anderen Straßenseite war nun nur noch etwa zwanzig Meter von Slobodan Andersson entfernt. Manuel war davon überzeugt, dass er dem Dicken folgte.
    |353| »Hermanito«, rief er, aber nicht sehr laut, er hatte Angst, dass der Wirt es hören könnte.
    Der Mann auf der anderen Straßenseite blieb plötzlich stehen.
    »Hier«, rief Manuel, der jetzt überzeugt war, dass dort drüben Patricio stand, und hob eine Hand über das Autodach.
    Der Mann auf der anderen Straßenseite drehte sich um, und Manuel wurden die Knie weich, als er in das Gesicht des Bruders blickte.
    Patricio sah genauso geschockt aus. Sekundenlang starrte er Manuel an, dann rannte er über die Straße, und die Brüder fielen sich in die Arme.
    Patricio machte sich aus Manuels Umarmung frei.
    »Da hinten geht der Dicke«, sagte er und deutete in die Richtung.
    »Ich weiß.«
    »Ich werde ihn töten«, sagte Patricio.
    »Nein, das ist falsch«, sagte Manuel heftig und wischte sich zugleich die Tränen von den Wangen.
    »Halt dich da raus!«
    Manuel legte Patricio den Arm um die Schulter.
    »Bist du aus dem Gefängnis ausgebrochen?«
    Patricio nickte, sah aber dem Dicken hinterher, der weiter die Straße hinunterging und schließlich um eine Ecke bog.
    »Er ist weg«, sagte Manuel.
    Als Slobodan Andersson verschwunden war, veränderte sich Patricios Haltung völlig. Er sank in sich zusammen und schluchzte.
    »Patricio«, sagte Manuel mit unendlich viel Liebe in der Stimme. Die Stadt ringsumher existierte für die beiden in dem Moment nicht, ebensowenig wie Kokain oder Gefängnismauern oder Tod. Keine Vorwürfe standen der Freude der Brüder im Wege.
    |354| Dieser Zustand vollkommener Einigkeit dauerte an, bis Manuel die Frage stellte:
    »Warum?«
    Patricio schlug die Augen nieder.
    »Das ist einfach so passiert«, sagte er. »Da waren ein paar andere   …«
    »Immer ein paar andere«, fauchte Manuel, aber die aufschäumende Wut verflog sofort wieder, als er die zerknirschte Miene seines Bruders sah.
    »Wir können hier nicht stehen bleiben«, sagte er und zog Patricio mit sich in den Schatten.
    Patricio wollte etwas sagen, aber Manuel hob die Hand und bedeutete ihm zu schweigen. Was sollen wir machen?, dachte er. Nun waren die Pläne alle nichtig. Patricio musste schleunigst von der Straße weg, er brauchte ein Versteck, darum ging es jetzt in erster Linie, und dann   … ja, was dann?
    »Warte hier, geh nicht weg«, ermahnte er den Bruder. »Ich hole das Auto.«
    »Was für ein Auto?«
    »Ich habe ein Auto gemietet.«
    Er rannte fast. Langsam kam ein Streifenwagen angefahren. Manuel warf sich über einen niedrigen Zaun und landete in einer Hecke. Der Wagen fuhr vorbei. Eva hat die Polizei angerufen, dachte er, sprang auf und lief zum Auto, das er hinter der nächsten Querstraße geparkt hatte.
    Vom Parkplatz bog er in die Straße ein und wendete. Als er am »Dakar« vorbeifuhr, kamen gerade ein paar Gäste heraus. Laut lachend und sich unterhaltend gingen sie die Straße hinunter. Das war ein gutes Zeichen, und Manuel wurde wieder ruhig. Wäre die Polizei im »Dakar«, wären die Gäste bestimmt sitzen geblieben und hätten noch neugierig abgewartet.
    Er rollte langsam zu der Stelle, wo er Patricio zurückgelassen hatte.

|355| 55
    M anuel erwachte vom Zwitschern der Vögel, oder genauer von dem heftigen Gekrächze vor dem Zelt. Dann fiel ihm alles wieder ein, was am Abend zuvor passiert war. Sekunden später schob er die Decke beiseite und setzte sich auf. Patricio war verschwunden! Sie hatten dicht nebeneinander geschlafen, so wie früher, wenn sie gemeinsam in den Bergen übernachteten, und Patricio hatte ihn gebeten, ihm von der Stadt zu erzählen.
    Manuel kroch aus dem Zelt und sah sich um. Dann kletterte er die Böschung hinauf. Von dort oben spähte er unruhig über die Umgebung des Flusses. Er fürchtete, Patricio könnte schon wieder abgehauen sein, aber dann entdeckte er ihn. Etwa hundert Meter flussabwärts saß er da, vielleicht hatte er sogar die Füße im Wasser.
    Manuel ging langsam zu ihm, er folgte dem Rand des Ackers, riss Grashalme ab und versuchte auszurechnen, wie spät es sein mochte. Die Sonne stand noch niedrig.
    Als Manuel den kleinen Hang hinunterrannte, drehte sich Patricio um. Die Brüder lächelten sich an.
    »Allein diese Stunde hier war den Ausbruch wert«, sagte Patricio. »Jetzt könnte ich auch wieder zurück ins Gefängnis gehen.«
    Manuel

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